Hirn an Herz: Wer per Whats-App Schluss macht, lässt emotionale und soziale Kompetenzen vermissen. Illustration: Adobe Stock/Nuthawut

Sich in eine andere Person einfühlen zu können, ist nicht angeboren. Warum viele Kinder sich inzwischen schwer tun, Empathie zu zeigen.

Ein Kind weint. Viele Kinder im Kindergarten gehen hin und trösten es. Manche spielen einfach weiter. Ein Grundschüler schlägt einer Mitschülerin eine blutige Nase. Auf die Frage, wie diese sich dabei wohl gefühlt haben mag, zuckt der Junge mit den Schultern und sagt: „Woher soll ich das wissen?“ Ein Teenager macht per Whats-App mit seiner Freundin Schluss. Wie es dieser damit gehe? „Keine Ahnung, ist das wichtig?“ Karl Heinz Brisch könnte noch mehr solcher Geschichten erzählen. Der Kinder- und Jugendpsychiater hat es regelmäßig mit Patienten zu tun, denen es schwer fällt, Mitgefühl für andere Menschen aufzubringen, sich in deren Gefühlswelt hineinversetzen und darauf entsprechend reagieren zu können. „Ich beobachte, dass immer mehr Kindern hier wichtige soziale und emotionale Kompetenzen fehlen, um sich empathisch verhalten zu können“, sagt Brisch.

 

Der Schlüssel zu fremden Gefühlswelten

Das sei sehr besorgniserregend, denn ohne diese Fähigkeiten sind Freundschaften und Beziehungen schwierig, ja das gesamte soziale Zusammenleben. Denn Empathie ist der Schlüssel zu fremden Gefühlswelten. Ohne Empathie können wir die Bedürfnisse von Mitmenschen nicht erkennen und nicht darauf eingehen.

Warum aber empfinden heute manche Kinder nichts mehr dabei, wenn sie ein anderes Kind schlagen? Warum können manche einfühlsam trösten, andere nicht? Und warum gibt es auch Erwachsene, die gleichgültig auf Gefühle anderer reagieren, anderen keine Hilfe anbieten, sich nicht mit anderen freuen können? „Die Fähigkeit, Empathie entwickeln zu können, trägt grundsätzlich jeder in sich“, sagt Markus Paulus, Entwicklungspsychologe an der Ludwig-Maximilians-Universität in München.

Weinende Babys stecken andere an

Allerdings ist es einem Baby nicht von Geburt an möglich, mit anderen mitfühlen zu können. „Dazu muss ich erst lernen, zwischen mir selbst und anderen zu unterscheiden und das passiert erst um das zweite Lebensjahr herum“, so Paulus. Diese so genannte Selbstkonzeption lässt sich zum Beispiel auch daran beobachten, dass Kinder sich im Spiegel erkennen – und nicht mehr denken, sie sehen dort ein anderes Kind. Sehen Babys dagegen andere Babys weinen, lassen sie sich häufig davon anstecken.

„Sie merken: das Weinen löst ein unangenehmes Gefühl in mir aus, wissen aber nicht, wie sie damit umgehen sollen“, sagt Markus Paulus. Erst wenn sie kognitiv dazu in der Lage sind zu sehen: da passiert etwas einer anderen Person, nicht mir selbst. Dann entwickeln sie auch langsam die Fähigkeit, auf die Gefühle anderer zu reagieren. So wie Eltern dann eben nicht mit dem Baby mitweinen, sondern es herumtragen, ihm etwas zu essen geben, seine Windel wechseln. In der Regel erzählen sie dem Baby auch, was und warum sie solche Dinge tun, um es zu trösten.

Durch solche Situationen lernen Kinder mit den Jahren, auch ihre eigenen Gefühle in Worte fassen zu können und diese differenziert von den Gefühlen anderer betrachten zu können. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass es Erwachsene im Umfeld der Kinder gibt, die empathisches Verhalten vorleben können. Die Zeit haben für solche sozialen Interaktionen. Die zeigen: Gefühle und Bedürfnisse jeglicher Art darf man äußern. Die mit Feingefühl darauf so eingehen, wie es das jeweilige Kind braucht – möglichst in einer Eins-zu-Eins-Situation. „Es braucht sehr, sehr viele solcher Interaktionen im Alltag, damit sich im Gehirn die Netzwerke bilden können, die es für Empathie braucht“, sagt Karl Heinz Brisch.

Videoclips ersetzen echte Emotionen nicht

Nun kommen viele Kinder heute schon sehr früh in Betreuungseinrichtungen, in denen eine Erziehungsperson sich um zahlreiche Kinder kümmert. „Wer schon mal einen Kindergeburtstag ausgerichtet hat, der weiß, dass es unmöglich ist, auf die individuellen Bedürfnisse mehrerer Kinder gleichzeitig ausreichend einzugehen. Und so geht es den Kindern in der Krippe und im Kindergarten jeden Tag“, sagt Brisch.

Umso wichtiger wäre es, dass die Kinder zu Hause viel Zeit im direkten Austausch mit engen Bezugspersonen verbringen. Nicht selten ist die Aufmerksamkeit der Eltern aber eher auf ihr Handy gerichtet als auf ihr Kind. Oder das Kind sitzt gleich selbst vor dem Smartphone oder am Tablet. In Videoclips werden zwar auch Emotionen gezeigt. „Es benennt sie aber keiner. Und vor allem werden sie nicht an unser Empfinden angepasst“, sagt Brisch.

Lacht in einem Video jemand laut, ist ein Kind dem ausgesetzt – egal, ob es das nun lustig findet oder nicht. Empathie kann man so nicht gut lernen. „Im direkten Austausch mit dem Kind würde man dagegen sofort einen Gang runterschalten, wenn man sieht, dem Kind gefällt das nicht mehr“, so Brisch.

Feinfühligkeit lernt man

Auch digitale Kommunikation trägt nicht unbedingt dazu bei, das Einfühlungsvermögen zu stärken. „Bei einer Text- oder Sprachnachricht sehe ich einfach nicht, wie die Botschaft ankommt. Und meist wird sie auch schnell verfasst, ohne groß darüber nachzudenken, wie das Gegenüber sie auffassen könnte“, sagt Karl Heinz Brisch.

All diese Dinge führen dazu, dass viele Lehrpersonen bei Schulkindern inzwischen ganz grundlegende sozio-emotionale Fähigkeiten vermissen, ohne die ein Unterricht in einer Gemeinschaft nur schwer möglich ist. Die gute Nachricht: Empathie kann man ein Leben lang lernen, eben weil die dafür notwendigen Voraussetzungen im Gehirn vorhanden sind. „Es ist aber extrem aufwendig, das später nachzuholen“, sagt Karl Heinz Brisch. So kann eine Lehrperson nicht 26 Kindern beibringen, wie sich ein Einzelner individuell feinfühlig verhalten kann. „Das geht viel besser in einer Eins-zu-Eins-Betreuung durch einen Schulbegleiter oder in einer Psychotherapie“, so Brisch.

Wozu Kindergarten und Schule aber sehr wohl einen großen Beitrag leisten können, ist das Erlernen der so genannten gruppenbezogenen Feinfühligkeit. „Da geht es darum, zu sehen, was eine Gruppe als Ganzes braucht, damit es allen gut geht, ohne dabei die Bedürfnisse eines Einzelnen aus den Augen zu verlieren“, sagt Markus Paulus. Das erfordere allerdings ausreichend pädagogisches Personal, welches diese Kompetenzen mitbringt.