Man kann die Fußball-WM genießen, ohne die Weltsicht ihrer Organisatoren zu unterstützen, meint Norbert Wallet.
Am kommenden Sonntag beginnt in Katar eine Fußball-Weltmeisterschaft, die ganz bestimmt besser an einem anderen Ort stattgefunden hätte. Der Wüstenstaat ist sicher kein Fußball-Land. Fußball hat dort keine Tradition, keine gewachsene Fanszene. Mal abgesehen davon, dass das dortige Klima für die Ausübung von Hochleistungssport unter freiem Himmel denkbar ungeeignet ist. Und natürlich ist die von der katarischen Führung offen zur Schau getragene Homosexuellen-Feindlichkeit, ihre Ablehnung eines Lebensmodells, das auf Vielfalt und Gleichberechtigung setzt, unvereinbar mit dem Leitbild von Diversität, Buntheit und Toleranz, für das der Sport stehen sollte und das die FIFA doch gern wohlfeil postuliert. Noch skandalöser als die Wahl des Gastgeberlandes sind womöglich die Umstände, die zu dieser Wahl geführt haben. Die gilt es gründlich aufzuarbeiten.
Das alles hat zu einer deutschen Debatte geführt, ob diese WM nicht besser von den heimischen Sportfreunden boykottiert werden sollte: also keine Übertragungen in Kneipen, kein Public Viewing, am besten totschweigen und ganz ignorieren. Zweifellos kann einem der Spaß an der WM vergehen. Auch wenn es seltsam ist, dass diese Forderungen vor vier Jahren in Russland oder anlässlich der Olympischen Spiele in Peking nur in ungleich geringerem Maße laut wurden. Wer so empört über den Austragungsort ist, dass ihm die Freude abhanden kommt, wenn er die Übertragungen aus Katar sieht, kann selbstverständlich abschalten. Kein Problem. Das ist Privatsache. Aber die Unterstützer des Boykotts machen aus dieser Privatsache eine öffentliche, eine politische, eine moralische Frage. Sie halten es für ethisch nicht vertretbar, die WM zu schauen. Auf den Punkt gebracht: Ist ein schlechter Mensch, wer angesichts der Haltung der katarischen Staatsführung zu Diversität und den Arbeitsbedingungen auf den Baustellen dennoch die WM verfolgen will, gar Spaß daran hat?
Grandiose Bühne für kleine Nationen
Das ist völliger Unsinn. Eine Fußball-Weltmeisterschaft ist eine einzigartige Messe des Weltfußballs, eine globale Leistungsschau und ein Vergleich konkurrierender Auffassungen des Spiels, eine grandiose Bühne auch für kleine Nationen aller Kontinente, denen sonst das Rampenlicht und die weltweite Aufmerksamkeit fehlt. Sie zeigt den Stand der Entwicklung der Sportart, weil die Besten zusammenkommen. Fußball ist Wettbewerb und die WM ist sein Gipfel. Jeder Fußballer träumt von diesem Kräftemessen, jeder wirkliche Fußballfan erinnert sich an die großen Kämpfe früherer Turniere. Die aktuelle WM ist ja nur eine Fortschreibung dieser kontinuierlichen Erzählung. Das Verfolgen einer WM ist auch eine Art, dieser Tradition und ihren brillantesten Athleten Respekt zu zollen.
Wer schaut, heißt nicht die Weltsicht der Organisatoren gut
Das alles kann man wertschätzen. Wer die WM als Fan des Spiels verfolgt, feiert den Fußball, seine Internationalität, seine prachtvolle Vielfalt, seine Geschichten, seine Helden, seine Dramen. Das kann man trennen: Wer die WM genießt, heißt damit keineswegs die jammervolle Weltsicht der katarischen Politik gut, im Gegenteil, er sollte begreifen, dass der Fußball im Idealfall ein genaues Gegenbild dieses Entwurfs ist. Man kann die WM schauen und Intoleranz verurteilen. Man kann die WM schauen und die Korruption der FIFA anprangern. Man kann die WM schauen und Gruppen unterstützen, die sich für bessere Arbeitsverhältnisse in Katar einsetzen. Das Schauen der WM ist kein Ausdruck der Unterstützung für ihre Organisatoren. Und niemand wird dadurch, dass bei ihm die Mattscheibe dunkel bleibt, zu einem besseren Menschen.