„Ich werde demnächst 63 Jahre alt, es ist Zeit für einen Generationenwechsel im JES“, sagt Brigitte Dethier, die scheidende Intendantin des Jungen Ensemble Stuttgart (JES). In de Bildergalerie findet sich ein Rundgang durchs Theater samt Eindrücken von Inszenierungen. Foto: LICHTGUT/Max Kovalenko

Intendantin Brigitte Dethier verlässt das Junge Ensemble Stuttgart (JES). Was plant die Künstlerin – und was ärgert sie bis heute? Das sagt sie jetzt vor ihrem offiziellen Bye Bye.

Beim zweiten Gespräch ist Brigitte Dethier ein bisschen aus der Puste. „Bin gerade dabei, Ordner auszusortieren“, ruft sie ins Telefon und schickt ihr Lachen hinterher. Laut, überfallartig, übermütig. Das bekannte Brigitte-Dethier-Lachen.

 

Mischt sich heute aber ein leiser dunkler Ton hinein? Vielleicht ist das aber nur Einbildung, denn die Vorstellung, demnächst nicht mehr mit Brigitte Dethier zu reden, wenn es gilt, über ambitioniertes, weit über die Grenzen Stuttgart und des Landes Baden-Württemberg bekanntes Kinder- und Jugendtheater zu sprechen, wirkt aktuell noch nicht recht vorstellbar.

Vor rund zwanzig Jahren, ist die 1959 in Haslach im Schwarzwald geborene Theatermacherin angetreten, mit der Erfindung und Leitung des Jungen Ensembles Stuttgart die Landeshauptstadt mit hervorragendem Theater zu versorgen. Offiziell eröffnet wurde das Haus in der Eberhardstraße 61a im Jahr 2004.

Mit Theater für die Kleinsten ab zwei Jahren ebenso wie mit Stückentwicklungen, intelligenten Literatur-Adaptionen und Abi-Stoffen wie zuletzt Hesses „Steppenwolf“, internationalen Kooperationen und der Öffnung zum Tanz mit eigenen preisgekrönten Zusammenarbeiten mit Choreograf Yves Thuwis mit „Noch 5 Minuten“ und „9 Leben“ und Kooperationen wie mit der Choreografin Nicki Liszta.

Positive Haltung

„JES“ steht für die Abkürzung des Theaternamens ebenso wie für Brigitte Dethiers Haltung: Ja, wir machen das! Nun ist aber Schluss. Beim Telefongespräch wird nachgeholt, was beim Abschiedstreffen im Büro vor lauter Diskussion um Theater und Pläne (es sind viele!) zu kurz kam: der Blick zurück. Wobei – dass sich das Gespräch um Gegenwart und Zukunft der Kunst dreht, ist ein gutes Zeichen. Es zeigt, dass die Intendantin immer auch Regisseurin geblieben ist. Neuerdings kommt der Beruf Schauspielerin hinzu.

In „Oma Monika“ spielt sie die an Demenz erkrankende Titelheldin; das Stück von Milan Gather, das er auch selbst inszeniert hat, gewann bei der Sparte Kinder- und Jugend der renommierten Mülheimer Theatertage den ersten Preis – einstimmig. „Wir haben die Diskussion um die Preisverleihung live verfolgen können“, sagt Brigitte Dethier, „und als ausschließlich bei unserer Produktion die komplette Jury für den ersten Preis gestimmt hat, das war ein Gänsehautmoment. Und ich freue mich für Milan, der jetzt so viele Anfragen auch von anderen Theatern bekommen hat.“ Und „Oma Monika“ könnte auch noch weiter reisen, die Arbeit ist in weiteren Theaterwettbewerben im Rennen.

Die Nachfolgerin Grete Pagan wird die Produktion ebenfalls im Spielplan behalten. Als Schauspielerin bleibt Brigitte Dethier dem JES also erhalten. Aber ein Abschied ist es doch „mit vielen letzten Malen“, wie sie sagt. Letzte Aufführungen von Produktionen, letztes Kaffeetrinken mit Künstlern und Künstlerinnen, die sie begleitet hat.

Anstrengend? „Ach nein, schön!“ sagt sie. Nur manchmal, wenn der Ton rührselig besorgt wird und Fragen kommen wie „Ach, wie GEEEHT’S Dir denn jetzt?“ – Brigitte Dethier imitiert jetzt eine besorgte Miene dazu -, kommentiere sie das schon mal mit „Leute, ich sterb‘ nicht! Ich höre nur mit dem JES auf“.

Jede Menge Pläne

Regie führen wird sie, aber anderswo, für die nächsten zwei Jahre ist sie voll beschäftigt. „Ich werde demnächst 63 Jahre alt, es ist Zeit für einen Generationenwechsel im JES.“ Ein Wechsel soll auch ein Wechsel sein. Thomas Manns‘ „Mario und der Zauberer“ inszeniert sie in Darmstadt, eine jugendliche „Walküre“-Fassung in Luzern, das „Rheingold“ war schon als Workshop über die Bühne gegangen, die anderen Ring-Teile kommen spartenübergreifend auf die Bühne. 2023 wird sie im Stuttgarter Wilhelma Theater mit Studierenden der Schauspielschule Stuttgart ein Stück inszenieren, in diesen Tagen ist Vorbesprechung.

Was aber bleibt? Was hat sich geändert, abgesehen vom Speiseplan – „Mehr Käse, mehr Gemüse! Weniger Fleisch!“ – auf dem jährlichen Sommerfest mit den Mitarbeitern auf der Dachterrasse des Theaters? „Eine Lieblingsinszenierung kann ich nicht nennen, das wären zu viele“, sagt Brigitte Dethier. „Es ist eher „das menschliche Miteinander, die Art wie wir hier zusammengearbeitet haben. Dass man weiß, wie wichtig alle für eine Aufführung sind, Schauspieler, Techniker, Ausstatter. Das konnten wir nur leben, weil alle dabei mitgemacht haben, dadurch ist das JES etwas ganz besonderes geworden für uns, aber auch für die Theaterlandschaft.“

Digitale Nachwuchsarbeit

In manchen Bereichen, die heute selbstverständlich sind, war das Haus Vorreiter – „dass etwa bei jeder Produktion auch eine Theaterpädagogin von Anfang an in den künstlerischen Prozess eingebunden ist, das war vor 20 Jahren eher die Ausnahme“.

Und spätestens seit Corona ist das Haus auch digital auf einem guten Weg. „Im Lockdown haben die Theaterpädagoginnen und Theaterpädagogen großartig mit den Schulen gearbeitet, sich mit künstlerischen Formanten in den Unterricht eingeklinkt. Und auch digitale Spielclubs gegründet. Das hat uns unglaublich geholfen, rasch wieder in den Spielbetrieb einzusteigen.“

Gerade für Kinder und Jugendlichen aus Haushalten, in denen Kunstbesuche nicht zum Lebensalltag gehören, ist ein Besuch mit dem Kindergarten, mit der Schule im Theater extrem wichtig. „Wir laden auch Eltern von Kita-Gruppen immer mit ein, damit sie sehen, was ihre Kinder hier machen und erleben. Und damit sie vielleicht auch Lust bekommen, ohne Schule oder Kita mit ihren Kindern ins Theater zu gehen.“

Besonders fürs JES sei auch das Internationale Festival „Schöne Aussicht“ alle zwei Jahre. „Das ist ein großes Geschenk, international zu reisen und zu sichten, denn das weitet den Horizont für alle Mitarbeiter und da ist bei aller Belastung der Gewinn immer deutlich größer als die Anstrengung.“

Neue Themen kamen mit den Jahren auf – Diversität, Gendergerechtigkeit, Inklusion, Nachhaltigkeit. „Wir haben Arbeitsgruppen zu den aktuellen Themen gegründet, um den Diskurs innerhalb des Hauses zu führen, und da standen wir manchmal vor schwierigen Entscheidungen“, sagt Brigitte Dethier. Soll das Programmheft zum Beispiel mit möglichst wenigen Seiten auskommen, weil das nachhaltig ist – doch was ist mit jenen im Publikum, die stark sehbehindert sind und die eine große Schrift benötigen um die Informationen lesen zu können, was aber mehr Papierseiten verbraucht? „Da haben wir uns dann für die Menschen entschieden“, sagt Brigitte Dethier.

Diversität im Jugendtheater

Dass Genderfragen und Diversität auch auf der Bühne verhandelt werden – ist das wirklich relevant für die ganz jungen Zuschauer? „Ja! Absolut. Das hat sich auch viel geändert. Früher gab es keinen Spielclub ohne eine Supermodel-TV-Szene. Die jungen Zuschauerinnen und Zuschauer sind heute kritischer, politisch interessierter.“ Wichtig sei, bei all den gesellschaftlich wichtigen Themen die Kunst, den Humor, die Ambivalenz nicht zu vergessen.

Dass ihre Nachfolgerin Grete Pagan darauf weiter den Focus legen wird, begrüße sie sehr, sagt Brigitte Dethier. „Gleichwohl bin ich froh, dass ich nicht mehr jede Entscheidung fürs ganze Theater verantworten muss.“ Zum Beispiel? „Die Fragen nach: was darf auf der Bühne gezeigt werden? Wer darf was spielen? Welche Reproduktionen werden gezeigt? Was erzeugen sie in unserem Publikum? Wovor warnen wir schon vor dem Theaterbesuch? Ich finde alle Themen spannend, weil sie den Bewusstheitsgrad fördern, warum ich was wie darstelle. Die Diskussionen darüber empfinde ich aber extrem fehlerfeindlich und intolerant.“

Kampf um eine Keller-Spielstätte

Denn Diskussionslust ist Brigitte Dethier erhalten geblieben. „Nicht immer“, sagt sie einschränkend. Beim Blättern in den alten Ordnern habe sie gesehen, wie stark sie sich lange Jahre für eine zusätzlichen Spielort engagiert habe, dann aber doch „weich geworden“ sei. „Wir hatten ja von Anfang an Akustikprobleme. Wenn das Fitz Vorstellung hat, können wir nicht im großen Studio arbeiten, ohne die Vorstellung zu stören. Und auf der Probebühne kann nicht gearbeitet werden, wenn im oberen Foyer gespielt wird .“

Das schränkt den Proben- und Spielbetrieb extrem ein. Wieder und wieder habe sie die Tiefgarage unterm Theater ins Spiel gebracht, da gebe es oft nicht besetzte Mitarbeiterparkplätze der Stadt, die man gut abgrenzen und als Spielort nutzen könnte. „Dass ich da nicht drangeblieben bin, finde ich schade.“

Im Zuge der Klimadebatte könnte der Hinweis auf verzichtbare Stellplätze womöglich auf offenere Ohren stoßen als früher. Vielleicht eine der Aufgaben für die neue Intendanz, denn die aktuell 95 Prozent Auslastung zu toppen, ist nicht so wichtig. Brigitte Dethier übergibt einen wunderbar offenen, weithin strahlenden Ort für Experimente, Spielfreude und Kunst.

Info

Letzte Vorstellungen
An diesem Freitag um 10 Uhr und um 18 Uhr (die Vorstellung am Samstag ist ausverkauft) wird noch einmal Brigitte Dethiers erste Inszenierung am Jungen Ensemble Stuttgart (JES) „Nebensache“ gespielt.

Abschiedsfest
„Das war’s JES von 2002 bis 2022“ heißt es zum Abschiedsfest der Intendanz Brigitte Dethier am 23. Juli um 17 Uhr im Jungen Ensemble Stuttgart.

Abschiedslektüre
Das aktuelle Spielzeitbuch des Jungen Ensembles Stuttgart enthält auch schon jede Menge Rückblick-Texte und Bilder