Die Kriminologin Britta Bannenberg gilt als Expertin für Amokläufe und Prävention. Foto: dpa

Die Gießener Kriminologin Britta Bannenberg warnt vor schwer zugänglichen jungen Männern, die sich seltsam verhalten. Bei ihrem Beratungsnetzwerk Amokprävention melden sich täglich besorgte Menschen aus ganz Deutschland.

Gießen - Die Gießener Kriminologin Britta Bannenberg hat ein Beratungsnetzwerk zur Amokprävention ins Leben gerufen. Sie erklärt, warum es wichtig ist, auch im eigenen Umfeld die Möglichkeit eines Amoklaufs niemals auszuschließen. Und was im Verdachtsfall zu tun ist.

Frau Bannenberg, wenn ich Lehrer wäre oder Erzieher, wie könnte ich einen potenzieller Amokläufer erkennen?
Manchmal fallen potenzielle Täter ganz plump auf, weil sie damit drohen, töten zu wollen. Lehrer sollten stets wachsam sein, wenn Schüler ihnen entsprechende Beobachtungen über Mitschüler zutragen. Oder wenn Schüler mit einem bestimmten Persönlichkeitsprofil im Unterricht Andeutungen zu Amokläufen, Tötungen und Attentaten machen, obwohl das gar nicht Unterrichtsthema ist.
Gibt es den typischen Amoktäter?
Es gibt tatsächlich ein typisches Persönlichkeitsprofil für jüngere Täter bis zum Alter von 22, 23 Jahren. Sie sind still, zurückgezogen, schwer zugänglich, undurchschaubar und eher Einzelgänger. Sie haben keine engen Freunde und fallen nicht mit positiven Interessen auf, tun sich also nicht beispielsweise in der Musik AG oder im Sport hervor. Meist sind sie auf weiterführenden Schulen und schlechte Schüler, die kaum etwas sagen und nicht weiter auffällig sind. Das ist sehr wichtig zu wissen.
Warum?
Weil die Möglichkeit einer schweren Gewalttat normalerweise eher mit einem lauten, aggressiven und unflätigen Typus in Verbindung gebracht wird. Beim Amoktäter, aber auch beim terroristischen Einzeltäter ist das gerade nicht der Fall. Amoktäter sind niemals eruptiv. Sie haben sich zwischen sechs Monaten und vier Jahren mit der Begehung einer solchen Tat beschäftigt. Nur in der Wahrnehmung der Außenstehenden handelt es sich um einen plötzlichen Gewaltausbruch.
Wenn eine Tat so lange vorausgedacht wird, müsste das doch irgendjemand bemerken. Brauchen wir mehr Sensibilität im Umgang mit männlichen Heranwachsenden?
Ja, diese Sensibilität muss man schulen. Die meisten Menschen wollen sich nicht mit der Möglichkeit befassen, dass in ihrem unmittelbaren Umfeld eine ganz schreckliche Tat geschehen könnte. Eltern von potenziellen Tätern lassen diesen Gedanken gar nicht zu. Die sensibelste Gruppe sind sicher die Mitschüler. Junge Leute lassen am ehesten den Gedanken zu, dass da eine Gefahr drohen könnte. Aber sie sind auch vorsichtig, beobachten den Mitschüler eine Zeit lang, tauschen sich aus und fragen sich dann, was sie machen sollen. Wenn sie keinen Ansprechpartner finden, wird es kritisch.
Auch dafür soll es an den Schulen ja Krisenteams geben.
Das ist die Theorie. In der Praxis gibt es immer noch Schulen, die davon nichts wissen. Sie verdrängen das Thema und ziehen Schüler, die mit einem Verdacht kommen, zur Rechenschaft. Ganz schlecht.
Welche Motive treiben den typischen Täter um?
Motivisch kann man die Täter nur verstehen, wenn man ihre gestörte Persönlichkeitsentwicklung nicht ausklammert. Normalerweise ist Gewalt nicht psychopathologisch. Wer wütend ist und gewalttätig wird, zeichnet sich vielleicht durch Unbeherrschtheit aus, ist aber meist ganz normal. Menschen, die eine solche lange Tat planen, haben eine fehlentwickelte Persönlichkeit. Sie ärgern sich über Alltagsgeschehnisse.
Haben Sie ein Beispiel?
Man wird in der Schule gefragt, warum man die Hausaufgaben nicht gemacht hat, und empfindet das als demütigend. Im Umgang mit Mitschülern gibt es mehr oder weniger raue Töne und wenig Anerkennung. Man fühlt sich als Mobbing-Opfer und fragt sich: Warum erkennen die nicht, dass ich viel besser bin als die anderen? Die Täter entwickeln eine narzisstisch-gestörte Persönlichkeit, sehen sich ständig im Mittelpunkt, ständig angegriffen. Dass andere auch Probleme haben, können sie nicht erkennen. Das Gefühl, von allen schlecht behandelt zu werden, ist tatsächlich die Quelle dieser Wut. Die wird aber nicht impulsiv geäußert, man frisst es in sich hinein, die Mimik bleibt glatt. Es gibt auch niemanden, mit dem sie sich eng austauschen können. Außenstehende merken gar nicht, dass die innerlich kochen und längst den Tag der Rache planen.
Kann man diese Dynamik unterbrechen?
Ja, eine Umkehr ist möglich, zum Beispiel durch positive Erlebnisse. Wenn das nicht geschieht, wenn einer vor sich hinbrütet, ins Internet geht und sich mit anderen Amoktätern befasst und identifiziert, kommt es irgendwann zur Tat. Dahinter steht immer eine Unfähigkeit, mit dem Leben klar zu kommen.
Gibt es eine typische familiäre Situation?
Wir haben es fast immer mit Mittelschicht- bis Oberschichtfamilien zu tun, die materiell relativ gut ausgestattet sind und nach außen völlig intakt wirken. Nach innen aber fehlt es in jeder Form an warmherziger Beziehung. Es fällt auch auf, dass die problematischen Söhne oft eine Sonderstellung haben. Es gibt fast immer Geschwister, die in der Persönlichkeit ganz anders sind, zugänglich und fröhlich, und die deshalb bevorzugt werden. Damit ist nicht immer ein Schuldvorwurf an die Eltern verbunden, auch wenn manche Eltern schwierig sind. Es hat schlicht auch mit der Persönlichkeit von Jungen zu tun, die schwer zugänglich sind.
Was raten Sie Eltern?
Sie müssen immer im Kontakt bleiben, Beziehung suchen, sich fragen, warum ihr Sohn jeden Tag vor dem Computer sitzt und keine anderen Interessen, keine Freunde hat.
Was zeichnet ihr Beratungsangebot aus?
Es ist niedrigschwellig, bei uns kann sich jeder melden. Das ehrenamtliche Angebot gibt es seit April 2015. Seit diesem Sommer rufen fast jeden Tag Menschen an. Etwa die Hälfte der Anrufer kommen aus dem schulischen Umfeld, es sind beunruhigte Eltern, aber auch Lehrer aus den Krisenteams. Es rufen aber auch Personen an aus Unternehmen, aus Jobcentern, sogar aus Polizeischulen. Da geht es dann um junge Polizeischüler mit Zugang zu Waffen, die völlig seltsam sich verhalten.
Wie können Sie und Ihre Mitarbeiter helfen?
Es geht immer darum, warum ein Anrufer beunruhigt ist und wer welche Informationen schon zusammengetragen hat. Aus einer einzelnen Äußerung oder Wahrnehmung kann man ja noch nichts ableiten. Je nach Gefahrenstufe stellt sich die Frage, ob man die Polizei einschaltet oder nicht. Manchmal gibt es überhaupt keine Debatte, manchmal spricht mehr dafür, das nicht zu tun und andere Instanzen wie etwa den sozialpsychiatrischen Dienst einzuschalten. Gegebenenfalls helfen wir dabei, die richtige Person bei der Polizei zu kontaktieren. Grundsätzlich gilt: Mit dem richtigen Ansprechpartner kann man die Weichen für Hilfen richtig stellen, professionell und sensibel.