Pünktlich zum Festjahr "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" hat der evangelische Schuldekan Thorsten Trautwein ein Buch über das jüdische Leben im Nordschwarzwald herausgegeben. Auf 800 Seiten schildern knapp 30 Autoren, wie Juden vor 1933 ganz normale Mitbürger waren, aber auch, wie der Nationalsozialismus das jüdische Leben im Nordschwarzwald fast völlig ausgerottet hat. Im Interview mit dem Schwarzwälder Boten schildert Trautwein, wie wie es einst aussah.
Nordschwarzwald - 800 Seiten, mehr als zwei Kilo schwer, 502 Abbildungen: Mit "Jüdisches Leben im Nordschwarzwald" ist im Juni ein Buch erschienen, das einen fast verschwundenen Teil der Geschichte des Landkreises Calw eindrucksvoll darstellt. Es erscheint nicht zufällig in diesem Jahr, denn 2021 wurde von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zum Festjahr "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" ausgerufen. Offiziell vorgestellt wurde das Buch am vergangenen Wochenende in Bad Liebenzell – coronabedingt ohne Publikum im Rahmen eines Symposiums mit allen 29 Autoren. Herausgeber des Buches ist Thorsten Trautwein, Schuldekan der evangelischen Dekanate Calw/Nagold und Neuenbürg. Im Gespräch mit dem Schwarzwälder Boten zeigt er auf, wie vielseitig einst das jüdische Leben im Nordschwarzwald war.
Herr Trautwein, mit dem Brandanschlag auf die Synagoge in Ulm wurde Baden-Württemberg in diesem Monat wieder Schauplatz eines antisemitischen Verbrechens. Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie davon gehört haben?
Es ist erschütternd, dass so etwas passiert. Ulm ist ja nicht so weit weg von uns. Da denkt man sich: Hätten wir eine Synagoge bei uns in Calw, könnte das wahrscheinlich auch hier passieren. Erschütternd ist, dass ausgerechnet auf Juden ein Anschlag verübt wird. Man sagt vielleicht, dass es nur auf die Fassade war, nur äußerlich. Aber wenn man Juden kennt, dann weiß man, dass das tief geht, weil es bei ihnen einfach viele Erfahrungen gibt mit Anschlägen, mit Anfeindungen, mit Vorurteilen. Da ist selbst der kleinste Versuch etwas, das ins Mark trifft. Da hat man große Anteilnahme als jemand, der gerne und gut mit Jüdinnen und Juden zusammenarbeitet.
Sie sind Herausgeber des Buches "Jüdisches Leben im Nordschwarzwald". War der Kampf gegen Antisemitismus das Hauptmotiv für dieses Buch?
Ja und nein. Natürlich haben wir aktuell eine Lage, in der das Thema Antisemitismus eine große Rolle spielt. Gerade in dieser Auseinandersetzung empfinde ich es als sehr wichtig, jüdisches Leben – das sage ich bewusst – nicht positiv, sondern objektiv darzustellen, realistisch darzustellen. Wir dürfen von einem Extrem, dem Antisemitismus, nicht ins andere Extrem fallen und Judentum verklären. Wichtig ist: Juden sind ganz normale Menschen, die bei uns gelebt haben, die als Familien hier gelebt haben, die einen Beruf hatten, die ihr Glück finden wollten. Natürlich ist es wichtig, sich gegen Antisemitismus einzusetzen, aber die Frage ist: Was mache ich denn, wenn ich gegen Antisemitismus bin? Man muss ja für etwas eintreten, man kann nicht immer nur gegen etwas sein. Und da will dieses Buch helfen, jüdisches Leben kennenzulernen und darzustellen, wie es sich hier in unserer Nachbarschaft über Jahrhunderte hinweg abgespielt hat. Das Buch soll darstellen: Juden waren ganz normale Mitbürger in unserer Gegend, die sich engagiert und eingebracht haben, die Teil unserer Gesellschaft waren und sind.
Wie sah denn jüdisches Leben vor 1933 im Nordschwarzwald aus?
Unglaublich vielfältig. Man kann nicht sagen, das war das eine jüdische Leben im Nordschwarzwald, sondern es gibt eine ganz große Bandbreite von Judentümern im Nordschwarzwald. Ähnlich wie man nicht sagen kann, dass das Christentum im Nordschwarzwald so oder so ist. Es gab im ländlichen Bereich um Rexingen, Horb und Baisingen die jüdischen Viehhändler, die ein Begriff waren, weil sie viele Niederlassungen hatten, etwa in Calw, Wildberg, Neuenbürg und Höfen, und mit ihrem Handel unsere Gegend durchzogen haben. Aber es gab auch Handwerker, Geschäftsleute, Ärzte. Es gab Wirtschaftsunternehmen, erst recht wenn wir nach Pforzheim gehen in der dortigen Schmuckindustrie. Es gab im kulturellen Leben Jüdinnen und Juden, die sich eingebracht haben. Ein Artikel im Buch handelt zum Beispiel von Lore Perls aus Pforzheim, eine Intellektuelle, eine Psychologin. Und dann gab es da noch etwas, was unsere Region in Bad Teinach, Bad Wildbad und in den Kurorten Freudenstadt und Schömberg sehr geprägt hat, nämlich der Kurbetrieb mit vielen Ärzten und Kurgästen, die Juden waren. Es gab aber auch viele jüdische Urlauber, die hierher gekommen sind, um die schöne Schwarzwaldluft zu haben. Und um diese Gäste herum hat sich dann eine jüdische Infrastruktur entwickelt mit koscheren Hotels und koscheren Restaurants. Diese wiederum brauchten koschere Lebensmittel und die kamen von den jüdischen Metzgern zum Beispiel aus Baisingen und Rexingen. Eine ganz vielfältige und faszinierende Geschichte.
Ist dieses jüdische Leben mit der NS-Zeit im Landkreis Calw vollständig ausgestorben?
Natürlich war der Nationalsozialismus ein gravierender Einschnitt, der das jüdische Leben komplett verändert hat. Es gibt aber noch eine andere Entwicklung, die mit der Industrialisierung kam. Dadurch sind schon viele Juden, die vorher in unseren Dörfern gelebt haben, in die Städte gegangen. Ähnlich wie auch Christen die Dörfer verlassen haben, weil man dort keine Zukunft mehr hatte. Und so haben manche jüdische Gemeinden schon Ende des 19. Jahrhunderts aufgehört zu existieren. Das war eine Entwicklung unabhängig vom Nationalsozialismus. Aber natürlich haben wir dann eine massive Einschränkung, Verfolgung und Vernichtung durch den Nationalsozialismus. Das Faszinierende ist aber, was auch im Buch erzählt wird: Es gibt Juden, die zurückgekommen sind. Da ist zum Beispiel Harry Kahn, ein Viehhändler, der die Konzentrationslager überlebt hat, in seinen Heimatort Baisingen zurückkehrt und dort seine Viehhandlung wieder aufbaut. Oder der Unternehmer Meyer in Schramberg, der dort eine Majolikafabrik geführt hat, nach England emigriert ist, nach dem Krieg wieder zurückkam und seine Fabrik weitergeführt hat. Es gibt also einen Anknüpfungspunkt an jüdisches Leben von vor dem Holocaust. Aber es war natürlich nicht mehr das, was es vorher war. Der Holocaust, die Erfahrungen, die Verfolgungen haben die Menschen geprägt. Und auch die, die von 1933 bis 1945 Täter waren, haben in einer besonderen Weise auf die zurückgekehrten Juden reagiert. Nicht durch Anschläge, aber Vorurteile gingen weiter, Schwierigkeiten gingen weiter. Es gab aber auch Beziehungen, die positiv wieder aufgenommen wurden.
Gibt es denn weiterhin jüdische Gemeinden im Nordschwarzwald?
Ja. Die heutigen jüdischen Gemeinden in Pforzheim und Rottweil, die wir im Buch darstellen, werden aber nicht von Familien gebildet mit einer langen deutschen Geschichte. In Rottweil haben wir vor allem sogenannte Kontingentflüchtlinge, also Juden aus den ehemaligen Sowjetrepubliken. In Pforzheim ist es ähnlich, dort gibt es aber auch Israelis, die dort arbeiten, und Jüdinnen und Juden aus anderen osteuropäischen Ländern, die sich in Pforzheim niedergelassen haben. Die heutigen jüdischen Gemeinden sind also anders zusammengesetzt als vor 1933. Das ist eine große Herausforderung für die jüdischen Gemeinden selber. Sie leisten dabei eine unglaubliche Integrationsarbeit, weil sie helfen, Menschen in die deutsche Gesellschaft zu integrieren. Sie leisten eine doppelte Integrationsarbeit. Bei unseren Symposium in Bad Liebenzell war es besonders beeindruckend, wie Frau Benizri-Wedde, Erziehungsreferentin der Israelitischen Religionsgemeinschaft Baden, selber jüdische Religionslehrerin, gesagt hat: Für sie ist dieses Buch wichtig, weil sie dadurch im Religionsunterricht ihren jüdischen Schülern die jüdische Geschichte des Nordschwarzwalds nahebringen kann. Sie sagt: Die Schüler leben in der Gegenwart und haben selber ganz wenig Verbindung zur jüdischen Geschichte des Nordschwarzwalds. Das ist eine Perspektive, die mir gar nicht klar war, als wir das Buch geschrieben haben.
Fast 30 Autoren haben an dem Buch mitgeschrieben. Was sind das für Personen und was treibt sie an?
Das sind fantastische Menschen. Es sind überwiegend Männer und Frauen, die sich ehrenamtlich mit dem beschäftigen, wie sich jüdische Leben an ihrem jeweiligen Ort entwickelt und entfaltet hat. Sie arbeiten teilweise an Erinnerungsorten wie ehemaligen Synagogen oder sind Lehrer, sie sich ausgehend von ihrem Religions- oder Geschichtsunterricht mit der jüdischen Geschichte ihres eigenen Heimatortes beschäftigt haben. Sie haben angefangen zu forschen und Unglaubliches zu Tage gebracht. Ein anderer ist ein Kirchengemeinderat, der gestöbert hat, was in seinem Ort zur Zeit des Holocausts war und sich dann auch mit dem jüdischen Leben davor und danach beschäftigt hat. Manche sind Historiker, die in Archiven arbeiten. Ein ganz buntes Spektrum. Menschen, die auf irgendeine Art und Weise Feuer gefangen haben für die jüdische Geschichte ihres Ortes – als ein Baustein ihrer Heimatgeschichte. Was ganz beeindruckend ist: Es geht nicht nur um jüdische Vergangenheit. Wir haben Kontakte bekommen zu Juden, deren Vorfahren hier gelebt haben und vertrieben wurden, Konzentrationslager überlebt haben oder rechtzeitig ausgewandert sind. Dadurch sind wir zu viel Bildmaterial gekommen, haben viele Namen erfahren und viele geschichtliche Sachverhalte entdecken können. Diese persönlichen Beziehungen sind etwas, das die Autoren auszeichnet. Und für die Nachfahren ist es für ihre persönliche Identität ganz wichtig, etwas über ihre Vorfahren herauszubekommen. So entstehen Beziehungen und Anknüpfungspunkte, die teilweise sehr schmerzvoll sind, weil der Nordschwarzwald ja nicht freiwillig verlassen wurde. Gleichzeitig hilft das aber, eine Brücke zu schlagen zur eigenen Biografie. Und da entsteht viel Heilung und Versöhnung.
Was es für Sie schwierig, solch ein großes Buchprojekt mit fast 30 Autoren zu koordinieren?
Ja und nein. Es war natürlich sehr ehrgeizig. Wir haben dieses ganze Projekt innerhalb kürzester Zeit geschultert. Wir haben Anfang 2020 begonnen mit den ersten Ideen. Im Sommer bin ich mit vielen Autoren in Kontakt getreten, mit manchen aber auch erst im Herbst. Abgabetermin für die Artikel war bereits im Januar. Bei manchen Artikeln ist erst im Laufe des Prozesses bewusst geworden, dass wir sie brauchen und sie wollen. Dann kam die Frage auf, wer diese Artikel schreiben kann. So kam ich auf manche Autoren erst sehr spät. Auch da war das Faszinierende: Die Autoren sind alle Überzeugungstäter. Sie haben wunderbar mitgemacht und innerhalb kürzester Zeit Enormes geleistet. Das war nur möglich, weil sie so gut in ihrer Thematik drin sind. Manche forschen zu ihrem Thema schon seit Jahrzehnten.
Sie haben das Symposium in Bad Liebenzell angesprochen. Was nehmen Sie von diesem Tag mit?
Leider konnten wir das nicht öffentlich machen. Geplant war, dass das ein Höhepunkt wird. Viele Menschen haben Interesse an diesem Buch bekundet, aber Corona hat das nicht möglich gemacht. Trotzdem war es ein ganz besonderes Ereignis, weil sich die Autoren begegnen konnten. Auch Vertreter der jüdischen Gemeinde Pforzheim waren da. Man muss sehen: Die Autoren selber arbeiten in ihren Bezügen. Zum Beispiel im Gedenkstättenverbund Oberer Neckar, das sind die ehemaligen jüdischen Gemeinden um Horb. Dann gibt es die Pforzheimer Forscher, die sich untereinander kennen. Und dann gibt es mittlerweile bei uns im Kreis Calw einige, die sich vernetzt haben. Es gibt aber bisher noch keine große Verbindungen zwischen diesen drei Gruppen. Darum war das für uns ein großes Aha-Erlebnis in Bad Liebenzell.
Daten und Fakten
Das Buch "Jüdisches Leben im Nordschwarzwald" ist im Verlagshaus J.S. Klotz erschienen, hat eine Auflage von 1500 Exemplaren und ist erhältlich im Buchhandel oder direkt beim Verlag. Preis: 29,90 Euro. ISBN: 978-3-948968-45-8.n Autoren
Die Autoren des Buches sind Christoph Timm, Benigna Schönhagen, Brigitte Brändle, Gerhard Brändle, Olaf Schulze, Jeff Klotz, Ulrich Romberg, Martin Frieß, Heinz Högerle, Barbara Staudacher, Timo Roller, Gisela Roming, Tatjana Malafy, Gabriel Stängle, Ruth Dörschel, Marina Lahmann, Bernd Brandl, Dorothee Völkner, Hans Mann, Dietrich Wagner, Fredy Kahn, Andrea Dettling, Thorsten Trautwein, Matthias Morgenstern, Jakob Eisler, Ulrich Müller, Oliver Kling und Frank Clesle.