Erst fließt Orangensaft, dann Blut: Der Flirt mit der freiheitsliebenden Carmen endet für viele Männer tödlich. Foto: Jesús Vallinas

Johan Ingers „Carmen“ erhielt vergangenes Jahr mit dem Prix Benois den Oscar der Ballettwelt. Jetzt ist seine Interpretation des spanischen Stoffs, die auch von der Gewaltbereitschaft unserer Zeit erzählt, mit der Madrider Compañía Nacional de Danza auf Tour und gastiert an drei Abenden in Ludwigsburg.

Stuttgart - Marco Goecke, Haus-Choreograf des Stuttgarter Balletts, ist eng mit dem Nederlands Dans Theater verbunden. Er und sein ehemaliger Kollege Christian Spuck sind zudem immer wieder in Oslo oder in Stockholm zu Gast. Während der Stuttgarter Ballettexport Richtung Norden gut läuft, sieht’s beim Import eher mau aus. Ballettintendant Reid Anderson hat international starke Choreografen wie Alexander Ekman oder Johan Inger nicht auf der Liste - muss er auch nicht, da der choreografische Nachwuchs im eigenen Haus ebenfalls stark ist und auf die Bühne drängt.

Wer trotzdem sehen will, wie Skandinavier die Ballettwelt bewegen, wird immer wieder im Tanz-Forum der Stadt Ludwigsburg fündig. So zum Beispiel am 26., 27. und 28. Januar, wenn Johan Inger „Carmen“ zum Tanzen bringt. Im Publikum wird an einem der drei Abende bestimmt auch Alicia Amatriain zu finden sein. Die Starsolistin des Stuttgarter Balletts hat den schwedischen Choreografen bei der Gala zum Prix Benois im vergangenen Jahr in Moskau getroffen - und wie Alicia Amatriain durfte auch Johan Inger eine der begehrten Trophäen einsacken.

Jetzt freut sich der Choreograf nicht nur über das neue Kunstwerk in seinem Haus - die Prix-Benois-Statuette wurde vom französischen Bildhauer Igor Ustinov, dem Sohn des Schauspielers Peter Ustinov, gestaltet. Die Auszeichnung für sein Ballett „Carmen“ hat auch das Interesse anderer Kompanien an dem Abendfüller geweckt, schließlich ist der Prix Benois so etwas wie der Oscar der Ballettwelt. „Der Preis hilft mir und auch dem Stück“, sagt Inger bescheiden.

Carmens Geschichte handelt von Gewalt

Was der Jury an dieser „Carmen“ gefallen hat, wird jedem, der das Stück beim Gastspiel der Compañía Nacional de Danza (CND) in Ludwigsburg sehen wird, klar: Fern aller Folklore beamt Inger den spanischen Mythos in die Gegenwart - und hält trotz zeitgemäßer Klarheit, die die Optik bestimmt, den Vorgaben von Bizet und Prosper Mérimée die Treue. „Als ich diese Geschichte zum ersten Mal gelesen habe, fiel mir auf, dass sie vor allem von Gewalt handelt“, sagt Inger. Keine getanzte Abhandlung über die zunehmende Gewaltbereitschaft unserer Zeit habe er mit „Carmen“ im Sinn gehabt, so der Choreograf. Und dennoch nimmt diese „Carmen“ klar Stellung zu Gewalt, ihrer Genese und ihren Konsequenzen.

„Gewalt gebiert Gewalt. Wer geschlagen wird, schlägt wieder“, sagt Inger und erzählt von einem Schulfreund, der durch häusliche Gewalt Schaden nahm. „Dieser kurze Moment hat sein Leben verändert“, sagt der Schwede und sieht diese Erkenntnis in „Carmen“ gespiegelt. „Ich wollte dem ein unschuldiges Motiv gegenüberstellen und Gewalt hinterfragen“, sagt der Choreograf, der die Geschichte aus dem Blickwinkel eines Jungen erzählt, der im weißen Sportdress und mit Ball auf die Bühne kommt.

Mit den Augen eines Kindes betrachtet ist auch die weibliche Hauptperson neu zu entdecken. „In ihrer Provokation ist Carmen ein sehr aktueller Charakter“ sagt Inger. Für ihn ist das Freiheitsstreben dieser Frau eigentlich ein typisch männlicher Wesenszug. „Weil Carmen aber eine Frau ist, fasziniert uns ihr Verhalten, das bei einem Mann ganz normal wäre. So jedoch wird Carmen zum Auslöser für männliche Gewalt.“

Johan Inger lebt selbst in Spanien

Im Vordergrund von Ingers erstem abendfüllenden Handlungsballett steht freilich das altbekannte Drama von Liebe und Eifersucht. Ein breites Publikum anzusprechen war Teil des Auftrags, den José Carlos Martinez, der neue künstlerische Leiter der unter Nacho Duato bekannt gewordenen CND, dem Schweden erteilte. Denn leicht habe es der Bühnentanz in Spanien nicht, wie Inger berichtet. Der Choreograf weiß, wovon er spricht: Er ist mit einer spanischen Tänzerin verheiratet und lebt mit seiner Familie seit seinem Abschied als Direktor des Cullberg Ballets 2008 in der Nähe von Sevilla. „Kultur passiert in Spanien eher auf der Straße, auch Flamenco schaut man außerhalb von Theatern. Die allgemeine Haltung ist folglich: Warum soll ich dann dafür bezahlen?“ So seien die tollen neuen Theater, die sogar in kleinen Städten entstanden seien, schwer zu bespielen. „Die Spanier sind gut im Schaffen von Strukturen, aber nicht so gut im Nachdenken darüber, wie man sie sinnvoll füllt“, hat Inger beobachtet.

Den Schweden, der als Tänzer des Nederlands Dans Theaters Ende der 1990er Jahre zum Choreografieren kam, muss das nicht weiter sorgen. Er ist international gefragt, derzeit erarbeitet er für das Theater in Basel „Peer Gynt“, Premiere ist im Mai. „Spanien ist ein schöner Platz zum Leben“, sagt er, „ich schätze die einfache Qualität des Daseins dort. Zum Arbeiten bin ich oft in nordischen Ländern; ich bekomme also das Beste aus zwei Kulturen. Ich fühle mich sehr privilegiert.“

Termin: Die Compañía Nacional de Danza zeigt „Carmen“ am 26., 27. und 28. Januar im Forum in Ludwigsburg