Tastenkünstler und Soundtüftler Roberto Di Gioia und Max Herre (links) sind die Köpfe hinter dem spannenden Projekt "Web Max", das am Samstagabend in der Rottweiler Stallhalle für Begeisterung sorgt. Foto: Graner Photodesign

Das Jazzfest Rottweil ist am Wochenende erfolgreich gestartet: Das Publikum feierte den Zauber der Live-Musik.

Rottweil - Am Freitag begannen die Abendkonzerte des 34. Rottweiler Jazzfests im Stall. Nicht irgendwie, sondern mit Wucht. "Colosseum" zeigte, dass auch eine Legende ausgesprochen lebendig sein kann. Und am Samstag legte das Projekt "Web Max" nach. Dem Kolossal-Prog- und Jazzrock folgte in der Stallhalle charmanter, groß angelegter Jazz mit Witz, Verve und nicht nur soundmäßig eingebautem Retro-Effekt.

Publikum fiebert Auftritt entgegen

Sicher, "Rentnercombo" ist despektierlich, wenn man an "Colosseum" denkt, und auch nicht so ernst gemeint. Doch könnten Chris Farlowe, Dave Clempson und Mark Clarke durchaus ihren Ruhestand genießen. Und es gab schon frühere Genies, auch beim Jazzfest, die nicht einmal mehr mitbekommen, dass sie allenfalls ihren Abgesang zelebrieren. Eine gewisse Vorsicht in der Erwartungshaltung, um Enttäuschung vorzubeugen, schadet also nicht. Am Freitag war man davon meilenweit entfernt. Auf beiden Seiten der Bühnenkante.

Das Publikum fieberte dem Auftritt entgegen. Viele seit bereits fast 20 Jahren, denn damals hatte man an selber Stelle festgestellt: "Colosseum" und "Rottweiler Jazzfest", das ist ein Super-Gespann. Beim ebenfalls gefeierten Konzert mit Jon Lord ein paar Jahre später gab es ein Wiedersehen mit Teilen der "Colosseum"-Crew. Das Ergebnis ist eine Bestätigung: Lust auf mehr. Mehr von diesem authentischen Jazzrock. Mehr von diesen herrlichen, anachronistischen Barock-Linien im Keyboard-Solo. Mehr von diesem Gitarrensound, der auch tüftelige Figuren im Diskant sauber bettet. Mehr von diesem lustvoll ausgespielten Schlagzeug.

Hunger nach Kultur

Entsprechend euphorisch ist der Empfang. Wohl auch noch aus einem anderen Grund: Nach einem Jahr Corona-Pause und einem gemütlichen Herbstfestival 2021 geht es wieder los. Der Hunger nach Kultur "zum Anfassen" ist da. Und auf der Bühne? Da geht es zu, als sei Musik machen das, was am einfachsten ist. Einfacher als ausruhen. Es muss einfach sein. Und: "Es ist gut, wieder zurück zu sein", sagt Chris Farlowe. Kein schneller Spruch, wie sich herausstellen wird. Auch mit über 80 Jahren liefert Farlowe R’n’B-Gesang, der sich gewaschen hat. Und er ist bester Laune – wie seine ganze Truppe. Seitenhiebe etwa zu besonderen deutsch-britischen Verbindungen wie Boris Becker und deren aktuellen Status inklusive.

Doch es geht um die Musik, und die hat es in sich. Mit Kim Nishikawara hat die Band einen Saxofonisten gefunden, der sich virtuos einbringt, starke Akzente setzt, ohne das vertraute Gefüge zu zerstören. Auch Keyboarder Nick Steed fügt sich ausgezeichnet in das Musiksystem von "Colosseum", das am Freitag zeigt, wie Live-Musik sein soll: in diesem Fall eher rau als elegant und immer mit vitaler Authentizität statt affektierter Attitüde.

Die Band weiß außerdem, was die Leute hören wollen. Doch sind die Klassiker, wie etwa Jack Bruce’s "Ladder to the Moon" oder nach der Pause "Walking in the Park", die auf dem legendären Live-Album von 1971 den Ruf der Band befeuerten, zwar souverän, nie aber routiniert hingespielt. Zu neuen Songs wie "Hesitation" gibt es an diesem Abend keinen Bruch. Können, Erfahrung, Spielfreude und Inspiration, dazu das Feedback aus dem Saal sind eine Mischung, die die Musik unwiderstehlich macht. Großen Beifall gibt es auch für die Hommage an "die tapferen Menschen in der Ukraine", noch bevor klar ist, was Colosseum sich als Stück ausgesucht hat. Es wird die "Valentyne Suite". Neben der Widmung für die Ukrainer ein echtes Geschenk für das Publikum in Rottweil.

Und davon gab’s auch am Samstag einige mehr. Gleicher Platz, neue Band. Dass das Projekt "Web Max" von Web Web und Max Herre auch an der Tür nach gestern klopft, dabei aber ganz andere Saiten anreißt, weniger knackige Musik, sondern feine Soundfiguren in eingängigem, gerne auch psychedelisch durchdrungenen Jazz zelebiert, ist launiger Nebenaspekt eines fulminanten ersten Festivalwochenendes.