Virtuos und humorvoll hat der Piano-Satiriker Chilly Gonzales beim Festival Jazz Open im Alten Schloss das Publikum beglückt.
Stuttgart - Was würde passieren, wenn der Jazz-Pianist Dave Brubeck seinen Hit „Take Five“ (1959) der heutigen Musikindustrie anbieten würde? „Sie würden sagen: 5/4-Takt geht nicht, wenn das im Radio laufen soll“, glaubt Chilly Gonzales, „und etwas anderes daraus machen: ,Take Four‘.“ Er spielt das Stück im 4/4-Takt – und die Magie ist weg. Vor 150 Jahren dagegen wäre es wohl „Take Three“ gewesen, und nun intoniert er Brubecks Evergreen als Donauwalzer in Moll.
Im obligatorischen Bühnendress, Morgenmantel und Pantoffeln, erweist sich Gonzales beim Festival Jazz Open erneut als Meister des satirischen Musik-Entertainments. Was er am meisten vermisst hat während der Pandemie? „The pressure, the Drück“, sagt er, „hohe Erwartungen“ – die er im Übrigen auch ans Publikum habe: „I drück you!“ Der Pianist ist für seine Verhältnisse leutselig an diesem lauen Spätsommerabend, in der Pandemie ist aus seiner ironischen Ferne eine Art Halbdistanz geworden.
Er muss nur einmal mit den Fingern schnippen, und alle machen mit
„Streamingkonzerte sind wie Sex mit drei Kondomen“, sagt Gonzales. Im Juli hat er eine Pophymne veröffentlicht, bei der er in der Strophe einen Rapper imitiert („Music is back like Johann Sebastian Bach / Like Burt Bacharach or Ratatat“) und im Chorus wie ein Rock-Sänger kokettiert: „Music is b-b-back“. Er zelebriert die Erleichterung darüber, dass das Darben ein Ende hat, und die Besucher im Alten Schloss machen gerne mit: Gonzales muss nur einmal mit den Fingern schnippen, schon tun sie es ihm nach.
Subtil spielt der Pianist mit den Genres. In „Knight Moves“ inszeniert er Lounge-Jazz, „Smothered Mate“ lebt von einem knackigen Jazzrock-Riff, das von Wolfgang Dauner stammen könnte, „Take me to Broadway“ parodiert Musical-Aufgeregtheit. Für Chilly Gonzales ist die Musikgeschichte ein Fundus, aus dem er nach Belieben schöpft und Miniaturen destilliert, die „Oregano“ oder „Dot“ heißen und so vertraut klingen, als hätte man sie schon mal gehört. Mit zartem Streicher-Schmelz untermalt das Kaiser Quartett die griffigen Stücke. Deren Dramaturgie erinnert häufig an Filmmusik, sie transportieren ambivalente Stimmungen und diffuse Gefühlslagen. In einer romantischen Klavierpassage tanzt im Rückraum des Schlosshofs ein Paar, versunken in die Musik.
Er reduziert Musikklassiker aufs Wesentliche
In einer „Masterclass“ lässt Gonzales das Quartett bekannte Motive spielen wie in einem Quiz und löst dadaistisch selbst auf: „,Eleanor Rigby‘ von den Rolling Stones“, „,Eine kleine Nachtmusik‘ von Joseph Haydn“, „,Le sacre du printemps‘ von einem russischen Komponisten“. Alle drei verwurstet er auf geniale Wiese in seinem Stück „Advantage Point“, reduziert aufs Wesentliche.
Passagenweise lässt der Kanadier mit dem federleichten Anschlag aufblitzen, was er wirklich kann. Wie sein Seelenverwandter Helge Schneider, mit dem er schon aufgetreten ist, hat Chilly Gonzalez den Spaß am musikalischen Kabarett vorgezogen. Und er trifft einen Nerv. Der Jubel ist ohrenbetäubend – an diesem Jazz-Open-Abend in Stuttgart entlädt sich die Spannung noch stärker als an den vorangegangenen.
Wo alle Hemmungen schon mal gefallen sind, ruft Chilly Gonzales dem Publikum irgendwann zu: „Music is back, motherfuckers!“ Das ist ganz sicher liebevoll gemeint.