Der Sarg der 15-jährigen Sarah wird bei ihrer Beerdigung in Avetrana durch die Menge getragen. Foto: AP

Ein Mann hat seine 15-jährige Nichte umgebracht. Die Mutter erfährt es live im TV.

Avetrana - Seit Wochen steht das Städtchen Avetrana in der süditalienischen Region Apulien in den Schlagzeilen. Am 26. August verschwindet in Avetrana die 15-jährige Sarah Scazzi. Ein hübsches, blondes Mädchen mit schulterlangen Haaren und einem sympathischen Lächeln. Laut Ermittlungen will Sabrina Misseri gemeinsam mit einer Freundin ihre Kusine Sarah gegen 14 Uhr abholen, um etwas zu unternehmen. Doch Sarah steigt nie in den Wagen der beiden Freundinnen ein. Stattdessen soll sie in eine Garage verschleppt worden sein. In die Garage des Vaters von Sabrina, Michele Misseri. Er ist der Onkel von Sarah.

Die Freundin von Sabrina und Sarah scheint, so ergeben die später von der Polizei kontrollierten SMS auf dem Handy, gesehen zu haben, wie die 15-Jährige in der Garage verschwand. In einer SMS von Sabrina sagt diese der Freundin, "die Klappe zu halten", denn das seien "ja wohl nur Hirngespinste". Daraufhin fahren die beiden jungen Frauen los und verbringen einen anscheinend unbeschwerten Nachmittag.

Wochen nach dem 26. August wendet sich Concetta Serrano, Sarahs Mutter, an die bekannte Fernsehsendung "Chi l'ha visto" (Wer hat was gesehen?), in der Vermisste gesucht werden. Die Mutter spricht vom Verschwinden ihrer Tochter, weint - ganz Italien erlebt ihre Verzweiflung. Während der Sendung, die von Millionen von Italienern gesehen wird, geschieht dann das Unglaubliche: Live über den Bildschirm kommt die Nachricht, dass Michele Misseri der Polizei gegenüber gestand, die Nichte in der Garage zunächst erwürgt und dann vergewaltigt zu haben. Anschließend trug er das Mädchen in seinen Pkw und warf sie in einen unbenutzten Brunnen in der Nähe.

"Ich kann das nicht glauben" und "mein Schwager ist unschuldig". Diese beiden Sätze wiederholt Concetta im Fernsehen immer wieder. Noch auf Sendung versucht sie, Michele telefonisch zu erreichen, aber der sitzt schon bei der Polizei in Untersuchungshaft.

Die Mutter kann es nicht glauben

Nachdem die Mutter Sarahs im Fernsehen die Nachricht vom gewaltsamen Tod ihrer Tochter erfahren hat, läuft die Sendung weiter. Rund zehn Minuten lang, in denen die verzweifelte Mutter schonungslos einem Millionenpublikum vorgeführt wird. TV-Moderatorin Federica Sciarelli entschuldigt sich später halbherzig für dieses unsensible Verhalten. Seitdem wird in der Bevölkerung das Verhältnis von Moral und Medien heftig diskutiert.

An der Beerdigung Sarahs nehmen Tausende von Menschen teil. Die gesamte Zeremonie wird stundenlang im Fernsehen übertragen. Die Eltern des Mädchens leben seitdem verbarrikadiert in ihrem Haus. Mit den Medien wollen sie nichts mehr zu schaffen haben. Ihr Haus wie auch das Haus und die Garage von Michele Misseri sind inzwischen zum Ziel von, so die Tageszeitung "la Repubblica", "Kriminalpilgern" geworden. Allein am letzten Wochenende kamen Tausende von Menschen aus Apulien und den umliegenden Regionen, um sich den Ort des Grauens anzuschauen.

Das Drama um Sarah erreichte in diesen Tagen noch einen weiteren Höhepunkt. Sarahs Kusine Sabrina sitzt inzwischen auch in Untersuchungshaft. Die Behörden sind davon überzeugt, dass sie mit ihrem Vater unter einer Decke steckte. Die vermeintlich gute Freundin soll die Kusine in die Garage gelockt haben, damit ihr Vater sie töten konnte. Nicht ausgeschlossen wird, dass Sabrina ihre Kusine festhielt, während ihr Vater das Mädchen erwürgte. Ob sie auch bei der Vergewaltigung anwesend war, ist unklar. Sabrina weist jede Mitschuld an der Tat von sich. Doch liegen Aussagen ihrerseits gegen den eigenen Vater vor.

Die Ermittlungsbehörden vermuten, dass Vater und Tochter die Verwandte aus dem Weg schaffen wollten, denn anscheinend hatte Michele Misseri seine Nichte schon mehrfach sexuell belästigt. Er und seine Tochter könnten entschieden haben, das Mädchen zu beseitigen, damit es sich nicht an seine Eltern wendet und denen von dem bösen Onkel berichtet. Ob das die ganze Wahrheit ist? Italien verfolgt mit angehaltenem Atem das Drama von Avetrana.