Schon Montag könnten die letzten 20 überlebenden Geiseln nach Israel zurückkehren. Doch nach einem euphorischen Willkommen erwartet sie ein schwieriger Prozess.
Am 27. Februar, zweieinhalb Wochen nach seiner Rückkehr aus den Tunneln unter Gaza, gab die frühere Geisel Eli Sharabi dem israelischen Fernsehsender Kanal Zwölf ein Interview. „Ilana“, fragt Sharabi die Interviewerin, „weißt du, was es bedeutet, einen Kühlschrank zu öffnen?“ Sein Gesicht ist schmal, die Wangen hohl. „Die Menschen sollten darüber nachdenken, wenn sie zu Hause einen Kühlschrank öffnen“, fährt er fort. „Das bedeutet die ganze Welt.“ Am Ende des Satzes bricht seine Stimme. Ob er das Gefühl des Hungers beschreiben könne, fragt die Journalistin, Ilana Dayan. Seine Antwort kommt schnell. „Unmöglich.“
Wohl kein Außenstehender kann vollständig erfassen, was es bedeutet, eine Geisel der Hamas zu sein. Monatelang in engen Tunneln auszuharren, die Beine in Ketten, umgeben von Schmutz und Würmern, wie Sharabi und andere Rückkehrer es beschrieben haben. Von Hamas-Männern geschlagen zu werden, bespuckt und verspottet, und es hinzunehmen aus Angst, sie zu verärgern. Um jedes Pitabrot, jeden Schluck Wasser, jeden Toilettengang betteln zu müssen.
In den kommenden Tagen, vielleicht schon am Montag, soll die Hamas die letzten 20 noch lebenden Geiseln aus ihrer Gewalt entlassen. So sieht es der Plan des US-Präsidenten Donald Trump vor, auf dessen erste Phase die Kriegsparteien, Israel und Hamas, sich diese Woche geeinigt haben. Die Angehörigen der Entführten können den Tag ihrer Rückkehr kaum erwarten. Nicht nur sie, das ganze Land fiebert auf ihre Freilassung hin. Die ersten Bilder der Befreiten, die ihre Verwandten in die Arme schließen, werden im israelischen Fernsehen in Dauerschleife gezeigt werden, wie es schon bei vergangenen Freilassungen war. Doch die Ankunft der Rückkehrer in Israel, das Wiedersehen mit ihren Familien ist nur der allererste Schritt auf einem langen, steinigen Weg.
„Die Leute denken: In dem Moment, da der Entführte zurückkommt – da ist alles vorbei“, sagt Michael Levy im Gespräch mit unserer Zeitung. „Aber für ihn und die Familien fängt der Prozess damit erst an.“ Levy ist der Bruder der früheren Geisel Or Levy, der 491 Tage in der Gewalt der Hamas ausharren musste. Anfang Februar kam er frei, zusammen mit Eli Sharabi und einem weiteren Mann, Ohad Ben Ami. Wie Sharabi hatten die Terroristen auch Levy in Gaza hungern lassen. Sein bleiches, eingefallenes Gesicht erinnerte viele Menschen in Israel an Bilder von Holocaust-Überlebenden. In einem Interview mit dem israelischen Fernsehsender Kanal 13 erzählte Or Levy später, Hamas-Terroristen hätten ihn und seine Mitgefangenen mit Eisenketten gefesselt. „Es war eine schwere Kette mit einem Schloss. Ich konnte mein Bein nicht heben“, erzählte er. „Und so habe ich viele Wochen verbracht.“
„Zwei Jahre in extremer Gefangenschaft hinterlassen tiefe Spuren“
Inzwischen sieht Or Levy besser aus, er hat an Gewicht zugelegt und Farbe gewonnen. Auch Eli Sharabi und andere Rückkehrer haben sich deutlich erholt. Doch schwerer als die körperlichen Folgen der Geiselhaft sind die seelischen Wunden. „Würdest du Or heute auf der Straße sehen, würde er dir völlig normal vorkommen“, sagt sein Bruder Michael Levy. „Aber die schlimmsten Momente sind die, in denen man allein ist.“ Experten bestätigen, dass der seelische Heilungsprozess der früheren Geiseln viele Jahre dauern dürfte. „Zwei Jahre in extremer Gefangenschaft hinterlassen tiefe Spuren in der menschlichen Psyche“, erklärt die Psychologin Vered Atzmon Meshulam, Leiterin der Resilienz-Abteilung bei der Hilfs- und Rettungsorganisation Zaka, im Gespräch mit unserer Zeitung. „Das ist eine anhaltende Erfahrung völligen Kontrollverlustes, Isolation, täglicher Angst und oft auch Erniedrigung, in der die psychischen Überlebensmechanismen immer wieder aktiviert werden. Das ist der Nährboden für die Entstehung einer komplexen Traumafolgestörung.“
Der israelische Staat bietet jedem der Rückkehrer umfangreiche Hilfen an: langfristige psychologische Betreuung, Sozialarbeiter als feste Ansprechpartner, finanzielle Hilfen, Unterstützung bei dem Wiedereinstieg ins die Arbeitswelt.
„Als er zurück war, wusste ich plötzlich nicht mehr, wer ich bin.“
Doch auch die beste Unterstützung kann die Traumata einer solchen Extremerfahrung nicht ungeschehen machen. Vered Atzmon Meshulam geht davon aus, dass manche mentalen Leiden die Rückkehrer noch viele Jahre begleiten könnten – womöglich für den Rest ihres Lebens. „Die Folgen zeigen sich etwa in Schwierigkeiten, intime Beziehungen einzugehen – darüber berichten einige der bereits zurückgekehrten Geiseln, in einem ständigen Gefühl von Bedrohung und Angst, in Schlafstörungen, Depressionen und einem beeinträchtigten Identitätsgefühl oder einer anhaltenden Entfremdung gegenüber der Realität.“
Die Rückkehrer sind zudem nicht die Einzigen, die Hilfe benötigen. Auch ihre Angehörigen hat die extreme Erfahrung unwiderruflich verändert.
Michael Levy, früher hochrangiger Manager in einer internationalen Firma, hat während der Geiselhaft seines Bruders nicht arbeiten können. Seine gesamte Energie, seine Zeit, seine Konzentration widmete er dem Kampf für die Befreiung seines Bruders. „Ich bin von Interview zu Interview gerannt und durch die Welt geflogen und habe nie innegehalten und mich gefragt, wie ich mich fühle“, erzählt er. „Ich habe in dem Gefühl gelebt: Ich bin nicht Michael, ich bin der Bruder von Or, und ich habe nur eine einzige Aufgabe: ihn zurückzubringen. Und als er zurück war, wusste ich plötzlich nicht mehr, wer ich bin.“
Finden von Sinn im Leiden ein Schlüssel zur seelischen Lebendigkeit?
Er selbst erhalte Unterstützung vom Staat, berichtet er, seine drei Töchter, die unter posttraumatischen Belastungsstörungen litten, allerdings nicht. Und die aktuellen Nachrichten, des Jahrestag des 7. Oktobers, der Deal zur Befreiung der letzten Geiseln wecke bei aller Erleichterung auch schmerzhafte Erinnerungen. „Jedes Ereignis kann einen zurückwerfen, alles kann jederzeit das Trauma wecken.“
Auch vor den 20 letzten Geiseln und ihren Familien liegt ein langer Weg der Erholung. Befreite durchliefen nach ihrer Rückkehr typischerweise drei Phasen, erklärt die Psychologin Atzmon Meshulam: „Unmittelbar nach der Rückkehr nach Hause erleben viele eine fast surreal wirkende Fremdheit: Einerseits enorme Erleichterung und eine Welle kollektiver Umarmung durch die Gesellschaft, andererseits befinden sich Körper und Psyche noch im Überlebensmodus. Wenn die erste Zeit vorüber ist, tauchen tiefere, komplexere Schichten auf – Schuldgefühle, ein Gefühl der Entfremdung gegenüber einer Umwelt, die sich während ihrer Abwesenheit weiterentwickelt hat, und manchmal auch unerwartete emotionale Ausbrüche.“
Doch die Expertin macht auch Hoffnung: „Wir wissen, dass sich Menschen auch nach schweren Traumata erholen und weiterentwickeln können. Der Holocaustüberlebende Viktor Frankl hat viel darüber geschrieben, dass das Finden von Sinn im Leiden ein Schlüssel zur seelischen Lebendigkeit und zur Fähigkeit sei, neu zu wachsen.“
„Ich habe eine zweite Chance bekommen. Ich bin frei, ich lebe“
Und vielleicht geben auch die Beispiele der bereits zurückgekehrten Geiseln ein wenig Hoffnung. Bei dem Angriff der Hamas vom 7. Oktober ermordeten die Terroristen Or Levys Frau Eynav, die Mutter seines heute vierjährigen Sohnes. Doch der Gedanke an seinen Sohn habe ihn in den Tunneln unter Gaza am Leben gehalten, erzählte Levy in einem Fernsehinterview: „Ich wollte nicht, dass er ohne Mama und Papa aufwächst.“
Der ehemals Entführte Eli Sharabi wiederum verlor am 7. Oktober nicht nur seine Partnerin, Lian, sondern auch ihre beiden gemeinsamen Töchter, Noya und Yahel. Er hat ein Buch über seine Erfahrungen geschrieben, vor der UN gesprochen und kämpft nun unermüdlich für die Befreiung der letzten Geiseln.
„Ich habe nicht das Privileg, den ganzen Tag im Bett weinen zu können“, sagte er einmal in einem Interview. „Ich habe eine zweite Chance bekommen. Ich bin frei, ich lebe. Freiheit ist unbezahlbar.“