Marjoke Breuning sieht auch Studienabbrecher als neue Zielgruppe bei der Suche nach Auszubildenden. Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth

Trotz aller Anstrengungen wird der Mangel an Lehrlingen in den kommenden Jahren noch zunehmen, meint Marjoke Breuning, die Präsidentin der Industrie- und Handelskammer Region Stuttgart.

Stuttgart - Lehrlinge werden händeringend gesucht. Die Stuttgarter IHK-Präsidentin Marjoke Breuning erklärt im Interview, was Unternehmen tun können, um sich als attraktive Arbeitgeber für den Nachwuchs zu präsentieren.

Frau Breuning, ist die Konkurrenz um Lehrlinge in einem Ballungsraum wie Stuttgart besonders groß?
Ja. Das liegt auch an der großen Fachkräftelücke, mit der alle Unternehmen in der Region Stuttgart zu kämpfen haben. Allein in diesem Jahr fehlen den Betrieben rund 23 000 beruflich qualifizierte Fachkräfte, wie zum Beispiel Mechatroniker, Einzelhandels- oder Bankkaufleute sowie IT-Fachinformatiker. Der Wettbewerb um Auszubildende ist in vollem Gange. Denn Auszubildende von heute sind Fachkräfte von morgen.
Nehmen die großen und bekannten Firmen den kleinen die Lehrlinge weg?
So würde ich es nicht formulieren. Alle profitieren davon, wenn ein Unternehmen ausbildet – egal, ob klein oder groß. Aber es ist klar, dass die großen Betriebe, die jeder kennt, es nicht so schwer haben Auszubildende zu finden. Deshalb berät unsere IHK kleine und mittelgroße Betriebe, wie sie sich als Ausbildungsbetriebe und Arbeitgeber besser darstellen und bekannter werden können. Außerdem vermitteln wir Bewerber passgenau in die Unternehmen. Dabei spielen auch neue Zielgruppen, wie etwa Studienabbrecher, eine wichtige Rolle. Die IHK vermittelt zum Beispiel ehemalige Studenten aus Naturwissenschaften und IT unter bestimmten Voraussetzungen in eine stark verkürzte Ausbildung in einem IT-Beruf. Aktuell entwickeln wir weitere Angebote für kaufmännische Berufe.
Die Branchen rund ums Auto gelten als besonders attraktiv.
Die weltweit bekannten Unternehmen mit ihren attraktiven Produkten ziehen natürlich junge Menschen ganz besonders an. Aber auch so mancher kleine Betrieb hat Auszubildenden einiges zu bieten, etwa ein besonders familiäres Betriebsklima und kurze Entscheidungswege. Das kann sich positiv auf die berufliche Karriere auswirken. Erfahrungsgemäß wird in kleineren Betrieben jungen Fachkräften früher Führungsverantwortung übertragen als in großen.
Was können die kleinen und mittleren Firmen tun, um sich attraktiver darzustellen?
Die meisten Betriebe hier in der Region zahlen gut und in der Regel übertariflich, sonst könnten sie mit Wettbewerbern von vorn herein nicht konkurrieren. Wichtig ist aus meiner Sicht, das Internet und die sozialen Medien zu nutzen. Junge Menschen sind auf Facebook und Instagram unterwegs. Wenn man sich dort als attraktiver Arbeitgeber präsentiert und auch zeigt, was man für Beschäftigte zu bieten hat, ist das schon der erste Schritt zum Erfolg. Am wirksamsten sind aber persönliche Begegnungen – auf Messen, im Praktikum oder beim Tag der Ausbildungschance in der IHK. Über Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter junge Leute aus dem familiären Bereich anzuwerben, lohnt sich ebenfalls.
Wo ist der Mangel besonders groß?
Den größten Bedarf gibt es im Handel. Von den rund 1000 freien Ausbildungsplätzen in unserer regionalen IHK-Lehrstellenbörse kommen fast 300 aus dem Einzel- und Großhandel. Hotels und Gastronomie suchen rund 125 Auszubildende, darunter mehr als 40 Köche. Aber auch die Finanz- und Versicherungsbranche bietet fast 100 freie Lehrstellen.
Gibt es überlaufene Modeberufe oder gibt es überall Mangel?
Überlaufen würde ich nicht sagen. Aber selbstverständlich gibt es Berufe, in denen die Nachfrage größer ist als das Angebot. Dazu gehören zum Beispiel die Mediengestalter oder die Büroberufe. Deswegen ist es gut, sich umzuschauen und nicht krampfhaft am Wunschberuf festzuhalten. Es können ja sehr wahrscheinlich auch in diesem Jahr nicht alle freien Ausbildungsplätze besetzt werden. Auch Berufe wie Verkäuferin, Kauffrau und Kaufmann im Einzelhandel sowie im Großhandel sind sehr attraktiv.
Wird sich die Situation in den nächsten Jahren noch verschärfen?
Damit müssen wir leider rechnen. Es ist nicht einfach, den allgemeinen Trend zum Hochschulstudium umzukehren und die Chancen der betrieblichen Aus- und Weiterbildung der Gesellschaft wieder stärker zu verdeutlichen. Zudem wird es weniger junge Menschen geben.

Wie stärker für Ausbildungsberufe geworben wird

Was ist zu tun? Soll mehr für Ausbildungsberufe geworben werden?
Unbedingt. Eine Berufsausbildung kann für viele Abiturienten eine gute Alternative zum Studium sein. Allerdings wissen das viele Schülerinnen und Schüler und auch deren Eltern nicht. Deshalb wollen wir die Berufsorientierung an Gymnasien, aber auch an allen allgemeinbildenden Schulen verbessern, zum Beispiel mit Bildungspartnerschaften zwischen Betrieben und Schulen. Sehr erfolgreich ist die Initiative Ausbildungsbotschafter: In mehr als 2000 Einsätzen in der Region Stuttgart haben Azubis in Schulen über ihre Ausbildung im Betrieb informiert. Außerdem hoffen wir, dass mit dem neuen Unterrichtsfach Wirtschaft und Berufsorientierung sowie der Einführung eines Tags der Berufsorientierung an allen allgemeinbildenden Schulen in Baden-Württemberg noch mehr Informationen über Berufe, Arbeit und Wirtschaft die jungen Menschen erreichen. Zudem beraten wir deren Eltern in „Elterncafés“ rund um die berufliche Ausbildung.
Und wie sieht es bei Migranten aus?
Für junge Migranten und Flüchtlinge gibt es in unserer Kammer eine Anlaufstelle mit dem Namen Kausa, was soviel bedeutet wie „Koordinierungsstelle Ausbildung und Migration“. Die IHK-Ausbildungsexperten vermitteln direkt in eine Ausbildung oder ein Praktikum und unterstützen die Migranten bei den nächsten Schritten. Wir müssen aber in allen gesellschaftlichen Bereichen noch mehr für die Berufsausbildung werben. In Ländern mit hoher Jugendarbeitslosigkeit beneidet man uns um unsere duale Ausbildung. Und mit den Herausforderungen der Digitalisierung gewinnt Ausbildung auch in Deutschland noch mehr an Bedeutung.
Warum gibt es immer noch so wenig junge Frauen in gewerblich-technischen Berufen?
Wahrscheinlich deshalb, weil es noch sehr verbreitet traditionelle Rollenbilder von Mann und Frau gibt. Und was die Eltern vorleben, machen auch die Jungen. Das ist ein Thema, dem wir noch mehr Aufmerksamkeit widmen müssen. Der Girls‘ Day ist schon ein Schritt in die richtige Richtung. Wir sind als IHK auch im Netzwerk Haus der kleinen Forscher aktiv. Dort versuchen wir über die Schulung von Erzieherinnen und Erziehern und die Zertifizierung von Kindergärten naturwissenschaftliche und technische Themen schon an die Kleinsten zu vermitteln. Ich glaube, das ist ein guter Weg, um Hemmschwellen abzubauen.
Das Handwerk erklärt gerne, die Lehre sei keine Sackgasse. Nach der Ausbildung gebe es sogar die Chance, später einen Betrieb zu übernehmen. Gilt das auch für die Industrie und den Handel?

Die Chance, ein Unternehmen zu führen, hat praktisch jeder. Aus meiner Sicht sind eine gute Geschäftsidee, solide Bildung und ein überzeugendes Konzept das Wichtigste. Wenn man sich selbstständig machen will, kann man ja klein starten. Die Beratung und Begleitung von Gründern ist ein Kernthema der IHK. Es gibt seit kurzem einen eigenen Ausschuss „Start-up und Young Business“ sowie ein regelmäßiges Netzwerktreffen für Gründer, das allen Interessenten offen steht.