Stuttgart - Bloß keine Geburtstagsduselei, winkt der Jubilar ab. Keine Fragen zum Leben eines Schriftstellers im allgemeinen. Nein, reden möchte Martin Walser nur über sein jüngstes Buch „Ewig aktuell“, das in sich versammelt, was er im Laufe seines Lebens zu gegebenen Anlässen in das Zeitgeschehen geflochten hat: Reden, Aufsätze, Stellungnahmen zur jüngsten Geschichte. Und so wird dieses Gespräch dann doch eine Reise durch sein Leben, wo es mit unser aller Leben zusammenhängt.
Herr Walser, Sie prägen einmal, wo es um den Kreml-Flieger Matthias Rust geht, den Begriff „Ausdrucksereignis“ für Geschehnisse, in denen eine Epoche fassbar wird. Kann man ihr Buch „Ewig aktuell“ insgesamt als eine Sammlung solcher Ausdrucksereignisse begreifen?
Mit dem Kreml-Flieger kann ich mich nicht vergleichen. Das ist ja auch ganz selten, dass eine Aktion einen solchen Mehrwert hat wie die von Rust. Ich habe immer nur auf etwas reagiert. Die hier versammelten Texte sind streng auf einen jeweiligen Anlass bezogen, der mich völlig bestimmt hat.
Warum mussten Sie auf so vieles reagieren?
Das ist mir inzwischen selbst ein Rätsel, das ich mir nicht erklären kann. Ich fühlte mich andauernd provoziert. Dadurch ist jetzt unfreiwillig eine Art Biografie entstanden, nicht die des Romanschreibers, aber die des provozierten Zeitgenossen.
Sind zeitgebundene Anlässe nicht eigentlich das Gegenteil von dem, was der Titel „Ewig aktuell“ verspricht?
Als ich diese Texte wiedergelesen hatte, dachte ich, das könnte zeitgeschichtlich interessant sein. Dass ein Schriftsteller auf dem Marienplatz in München gegen den Vietnam-Krieg redet, das kann man sich doch heute gar nicht mehr vorstellen.
Man könnte auch davor zurückschrecken, mit der Vergangenheit eigener Anschauungen konfrontiert zu werden. Erkennen Sie sich immer wieder, in dem, was sie waren?
Der schlimmste Text in meinem Buch ist diese Rede in Konstanz über Kapital und Arbeit. Ich hatte keine Ahnung, was Kapital ist und was Arbeit ist, und halte eine Rede in diesem ausgeliehen neomarxistischen Jargon, der keine Zeile lang meine eigene Sprache ist. Wenn ich das heute lese, denke ich: Gott sei Dank habe ich mir sonst kein Vokabular irgendwo ausgeliehen. Auch beim Erscheinen von Blochs „Prinzip Hoffnung“ im Westen schreibe ich mit Marx- und Engelszungen, aber das war eben mein Gefühl damals, das habe ich versucht, auszudrücken. Dafür kann ich geradestehen.
Sind derjenige, der 1967 Deutschland auf dem Weg in den Einparteienstaat sieht, der sich 1972 für die Wählbarkeit der DKP verkämpft und der 2009 die große Koalition unter Angela Merkel lobt, ein und dieselbe Person?
Wer weiß das schon. Aber das damalige Gefühl kann ich noch mobilisieren. So herzlich zustimmungsfreudig, wie ich gegenüber Angela Merkel heute bin, war ich gegenüber jener früheren großen Koalition unter Kiesinger nicht. Nach meinem politischen Beobachter-Sachverstand, den ich mir angeeignet oder auch nur eingebildet hatte, schien das auf eine ewige Regierung hinauszulaufen.
Einheit, die entzweit
1961 bekennen Sie, von Großdeutschland nur zu träumen, wenn Sie schlafen, und auch dann „gar nicht selig“, doch dann tauchen 1972 die beiden Deutschland erstmals als ein System kommunizierender Röhren auf, sechs Jahre später dann die Einsicht, die Geschichte Deutschlands dürfe nicht in dem Katastrophenprodukt der Teilung enden. Konstanz oder Kehre?
Durch meine Vietnam-Aktivität wurde ich in den sechziger Jahren im öffentlichen Bewusstsein ganz nach links transportiert. In den siebziger Jahren habe ich mich ganz allmählich gewundert, dass wir mit Blick auf die deutsche Teilung diesem Provisoriumsaberglauben verfallen waren. Die Teilung war ein Provisorium, das von allen als endgültig fixiert wurde. Das ist mir auf meine historischen Nerven gegangen, auch gegen mein Gefühl. Ich habe mich lange genug einschüchtern lassen. Dann fasste ich den Mut, doch endlich einmal zu sagen, dass die deutsche Teilung kein erträglicher Zustand sein kann. Und wenn mich das öffentliche Bewusstsein vorher ganz links eingeordnet hatte, fand ich mich nun plötzlich nach rechts geschoben.
Während Sie das Gefühl hatten, sich gleich geblieben zu sein?
Ich habe mich wahrscheinlich kaum geändert. Sonst könnte ich die Texte aus den sechziger Jahren gar nicht mehr richtig lesen. Die Erfahrung aber, wie man eingeordnet wird, hat mein ganzes Leben bestimmt. Man will nicht links oder rechts sein, sondern man hat eben dieses oder jenes Thema. Auch als Linker habe ich heftige Kritik erfahren. Einmal schrieb ich: „Seit Sie mich als Kommunist behandeln, weiß ich, wie bei uns Kommunisten behandelt werden.“
Wie war es dann, plötzlich als rechts behandelt zu werden?
Es lässt sich kaum mit etwas vergleichen, wie gemein, wie niederträchtig Kollegen und Medien über mich hergefallen sind und mich als Nationalisten diffamiert haben. Dass mich ein SPD-Funktionär heruntergemacht hat, konnte ich noch verstehen. Aber dass ein vernünftiger, kluger Kollege wie Jurek Becker dann in der „Zeit“ schrieb: Die Sprache Walsers kenne man aus den Hinterzimmern bayerischer Wirtschaften und man müsse daraufhin noch einmal seine Romane kritisch lesen – das hat mich sehr getroffen. Später, als der ganze Schwindel vorbei war, sind wir uns auf einem Podium begegnet. Als ich ihn darauf ansprach erwiderte er nur: „Haben Sie noch nie etwas im Zorn gesagt“.
Haben Sie nicht?
Ich weiß nicht genau, was das ist: Zorn beim Schreiben. Ich selbst kenne mich so nicht. Mir fehlt da wohl eine Temperamentsbegabung.
Wider die Wolkenschieber des Zeitgeists
Ihr Buch ist aber auch ein Schatzkästlein fantasievoller Intellektuellen-Schelte: von Wolkenschiebern des Zeitgeists ist da die Rede, von Gewissenspflegern der Nation, Postillonen des Sinns.
Das kommt nicht aus mir. Die haben mich dazu gebracht, mich so ausdrücken zu müssen. Als ich anfing zu schreiben, galt das Gebot, man müsse um jeden Preis „zeitkritisch“ sein. Ich habe schon früh gesagt, dass ich es für töricht halte, zu glauben, ein Schriftsteller müsse die Gesellschaft kritisch erzählen, als sei er selbst außerhalb der Gesellschaft in einer reinen Beobachterposition. Er gehört dazu. Wenn er über die Gesellschaft schreibt, schreibt er von sich.
Das führt zu der Paulskirchen-Rede von 1998. Sie erklären da, sich nicht in den Meinungsdienst nötigen lassen zu wollen, andererseits hat kaum eine Äußerung den Meinungsmarkt so aufwallen lassen, wie die fortan in einer Eigendynamik des Missverstehens immer wieder zitierten Reizwörter der „Instrumentalisierung“ von Auschwitz, der „Dauerpräsentation unserer Schande“, der „Moralkeule“.
Diese Rede ist der Inbegriff meiner möglichen und unmöglichen Verhaltensweisen. Bis auf die heutige Zeit muss ich mich immer wieder dazu verhalten. Ich bedaure zutiefst, dass ich im Satz von der Instrumentalisierung keine Namen genannt habe: Gemeint habe ich Walter Jens, Günter Grass und andere Kollegen, die immer wieder verkündet haben, die Teilung sei eine Strafe für unsere Verbrechen in Auschwitz. Ich halte das in jeder Hinsicht für falsch. Die Teilung war ein Produkt des Kalten Kriegs und keine Strafe. Das habe ich mit Instrumentalisierung gemeint. Ignatz Bubis, der damalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, und andere verstanden das aber so, als hätte ich auf jüdische Entschädigungsansprüche angespielt. Nichts wäre mir fremder und unmöglicher als diese Überlegung. Wer meinen Roman „Verteidigung der Kindheit“ gelesen hätte, wüsste das. Aber alle nehmen nur Reden und Aufsätze zur Kenntnis. Kein Mensch liest Romane.
Ihre Kritik am öffentlichen Umgang mit den NS-Verbrechen war aus dem Gefühl gespeist, dass man der Ungeheuerlichkeit der Schuld in den Formen einer öffentlichen Sühne-Praxis nicht gerecht werden kann. Unterstellt wurde Ihnen gerade das Gegenteil, Ihr Ungenügen an den Routinen des Gedenkens sei vom Bedürfnis eines Schlussstrichs getragen.
Wie konnte man mir das Wort Schlussstrich nachrufen. Was ist das für ein Kulturbetrieb, was für eine Meinungsmaschine? Ein Schlussstrich kommt bei mir nie vor. Aber wenn der damalige Feuilleton-Chef der FAZ, Frank Schirrmacher einen Skandal brauchte, dann stand eben plötzlich dieses Wort im Raum.
Wie berührt es Sie, wenn heute die
AfD aus dem Zusammenhang gerissene Wendungen zu ihren Zwecken instrumentalisiert, von einer Monumentalisierung unserer Schande spricht und gegen die Gedenkkultur agitiert?
Ach wissen Sie, wenn Jurek Becker etwas gegen mich sagt, empfinde ich das schmerzlich. Wenn irgendein AfD-Funktionär mich missbraucht, bin ich schon fast nicht mehr geneigt oder fähig, das wahr zu nehmen.
Die Afd hat keine Dauer
Sie schreiben einmal, dass in einem geeinten Europa von Deutschland keine Gefahr mehr ausgeht. Aber Europa bröckelt.
Das sehe ich anders. Wir werden gerade Zeuge einer Völkerwanderung. Dass das überall, wo sie hinkommt, eine Unruhe, eine Krise auslöst, ist doch selbstverständlich. Deswegen fand ich ja die Bundeskanzlerin so toll, als sie gesagt hat, wir schaffen das. Sie hat dem historischen Moment entsprochen: das musste man sagen. Wenn nachher ein Seehofer kommt und eine Obergrenze ausrechnen will, ist das für mich der Punkt, wo Politik beginnt, lächerlich zu werden. Das ist dem Anlass gegenüber unwürdig. Sicher steckt Europa in einer schwierigen Lage, man kann sich die Geschichte eben nicht aussuchen. Aber dem müssen wir entsprechen, und ich bin ganz sicher, dass Merkel recht hat: wir werden das schaffen.
Aber der Populismus blüht.
Dass sich Zukurzgekommene in einem solchen Krisenaugenblick etwas ausrechnen, womit sie ein Geschäft machen können, ist klar. Es gibt in jeder Gesellschaft Zukurzgekommene aller Art, und die sind hochachtenswert. Aber was politische Funktionäre daraus machen, ist schmählich. Ich glaube, dass die AfD keine Gefahr ist, sie hat keine politische Substanz. Diese Partei ist ein reines Ressentimentprodukt und wird verschwinden wie die Republikaner, an die man sich kaum noch erinnert. Anders sieht es mit Marine Le Pen in Frankreich aus. Deutsche sollten allerdings vorsichtig sein, französische politische Entwicklungen zu kritisieren. Frankreich ist die Urdemokratie Europas. Ich bin ein interessierter Beobachter, aber ich würde mir nie gestatten, ein Urteil abzugeben.
Die Öffentliche Meinung sei das Nervensystem der Demokratie, nach der Erschaffung Gottes unser wichtigstes Werk, heißt es 1987 in Ihrer Laudatio auf Rudolf Augstein. Wir erleben gerade aber einen Autoritätsverlust der klassischen Medien.
Wir brauchen keine Autorität, sei es vom Bundespräsidenten, sei es von Kirchen, sei es von den Medien. Alle Autorität ist für mich eine Stagnation, eine Macht, die nicht legitim sein kann. Auch Kafka, Proust, Dostojewski sind für mich keine Autoritäten, sondern Menschen, die ich mit dem größten Interesse lese und die dann auf mich wirken. Es liegt an den Medien, ob darin so geschrieben und so gesprochen wird, dass es einflussreich ist. Man kann dann immer noch streiten, ob der Einfluss gut oder schlecht ist. Nach meiner Erfahrung sind wir in der Hinsicht so ungefährdet, wie wir es noch nie waren. Die 25 Jahre der deutschen Einigung sind die produktivsten, glücklichsten deutschen Geschichtsjahre, die ich kenne. Wir sind durch die Erfahrung unserer Geschichte geschützt gegenüber allen autoritären Tendenzen.
Sie verurteilen immer wieder die Medienöffentlichkeit, und doch dokumentiert dieses Buch, wie sehr sie Teil davon sind. Wie geht das zusammen?
Ich habe festgestellt, wer in einer linken Zeitung schreibt, lässt alles weg, was gegen das sprechen würde, was er da schreibt; wer in einer rechten Zeitung schreibt, macht das gleiche. Jeder leistet einen Verzicht, um deutlich zu sein. Das gesamte öffentliche Meinungsgebäude ist auf diese Weise ein ziemliches Kunstprodukt. Es ist vielleicht utopisch, aber ich finde, wenn jemand im Bundestag etwas vertritt, soll er auch vertreten, was dagegen spricht. Wenn ich beides gehört habe, kann ich entscheiden, was mir näher ist. Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr. Das ist mein Verhältnis zu den Medien.
Wenn man über die Paulskirchenrede sprechen könnte, jenseits dessen, was in der Rezeption zu ihrem ausschließlichen Gegenstand wurde, müsste man doch sagen, dass sie eine einzige große Liebeserklärung an die Sprache der Literatur ist. Wie verhalten sich Ihr letzter Roman „Statt etwas“ und „Ewig aktuell“ zueinander?
Zu meinem Erstaunen ist die Sammlung von „Ewig aktuell“ eine Art Autobiografie geworden, wie ich sie nie hätte schreiben können. Der Figur meines Romans „Statt etwas“ aber bin ich erklärungslos nahe. Derjenige, der da schreibt merkt, wie die Gesellschaft sich in seinem Bewusstsein eingenistet hat, dass er immer etwas vertreten musste. Und jetzt will er nur noch sich selbst sein, ohne jede belletristische Verkleidung. Es ist ein Risiko, den Menschen so etwas anzubieten und Roman zu nennen, ohne jede Spur belletristischer Buntheit. Dass ein solches Buch auf der Bestsellerliste landet - da könnte ich dann wirklich zum Nationalisten werden: das kann einem nur in Deutschland passieren.
Das Gespräch führte Stefan Kister