Die Darsteller Dorothea Baltzer und Robert Atzlinger sowie die Musikerin Birgit Maier-Dermann gestalteten die Aufführung "In der Mitte des Netzes" so eindrucksvoll, dass die Zuschauer sich mittendrin fühlen konnten. Foto: Eyrich

Des "Genius loci", des Geistes im Stauffenbergschloss, hätte es gar nicht bedurft, um mit der Kollage "In der Mitte des Netzes" Wirkung zu erzielen – das haben die Akteure ganz alleine geschafft.

Albstadt-Lautlingen - Für einen Urgroßneffen Helmuth von Moltkes schien der Weg vorgezeichnet. Ein Nachfahr des genialen preußischen Generalstabschefs, der durch die Siege Preußens über Österreich 1866 und über Frankreich 1870/71 zur Legende wurde, musste Militär werden, oder? Dennoch wählte Helmuth James Graf von Moltke die Juristenkarriere, engagierte sich sozial, in Sachen Bildung, half jüdischen Verfolgten – nicht nur als Rechtsanwalt – und gilt als Gründer der Widerstandsgruppe "Kreisauer Kreis", benannt nach seinem Heimatort.

Wie Moltke tickte, warum er glaubte, das Naziregime werde auch ohne Attentat gegen Adolf Hitler in sich zusammenbrechen, und was ihn in den letzten Wochen und Tagen vor seiner Hinrichtung am 23. Januar 1945 bewegte, erfahren – zu wenige – Zuschauer am Sonntagabend im Stauffenbergschloss aus dem Briefwechsel zwischen Helmuth James von Moltke und seiner Frau Freya, die er mit "Mein Lieber" ansprach, wie einen Mann, und die 65 Jahre nach ihm im US-Bundesstaat Vermont starb.

Die Musik verschmilzt mit den Worten

Die Briefe erwecken die Schauspieler Dorothea Baltzer und Robert Atzlinger so eindrucksvoll zum Leben, dass die Zuschauer sich mit ihnen fühlen "In der Mitte des Netzes", so der Titel der Kollage aus Szenen, Lesung und Musik von Erich Schobert, bei der Ulrike-Kirsten Hanne Regie führt. Mit ungewohnten Klängen untermalt die Flötistin Birgit Maier-Dermann die ergreifenden Worte der Eheleute so gekonnt, dass sie mit den Worten wahrlich verschmilzt, wie der natürliche Hintergrund der schriftlichen Dialoge wirkt.

Fragt Moltke sich zu Anfang des Zweiten Weltkrieges noch, warum das Deutsche Reich Norwegen besetzt habe, wächst schon bald seine Sorge, dass die USA in den Krieg eingreifen. Doch Umsturz? "Nicht während des Krieges gegen die Bolschewiken!" Wenngleich ihm klar ist, dass der Krieg im Osten schon wegen des Zustands der Panzer nicht zu gewinnen sei. "Und der Preis ist ja nicht Moskau, sondern Ukraine und Kaukasus." Die Parallelen sind erschreckend aktuell.

Jede Minute vier Deutsche und zehn Russen

Mehr und mehr wird in seinen Briefen an Freya klar, dass "die Verantwortung vor der Geschichte" schwerer wiegt als die "Pflicht, zu gehorchen" – nun, da jede Minute vier Deutsche und zehn Russen koste, "ein schrecklicher Preis, der jetzt für Untätigkeit gezahlt werden muss".

Ein Attentat auf Hitler kommt für den gläubigen Christen nicht in Frage, und dennoch wird Moltke im Januar 1944 verhaftet. Der Briefwechsel zwischen ihm und seiner geliebten Freya wird persönlicher, konzentrierter, eindrücklicher, je näher Moltkes Ende rückt, was Dorothea Baltzer und Robert Atzlinger sowohl durch räumliches Zusammenrücken als auch durch ihre Vortragskunst unterstreichen. Ungewöhnliche Elemente wie das stenografieartige Lesen eines Textes verhindern Eintönigkeit, fesseln die Zuschauer.

Tränen und Honig

Plötzlich fließen Tränen, wünscht er sich Honig und Würfelzucker und schreibt nun auch an seine Söhne Caspar und Konrad, den er eigentlich gar nicht kennt. "Ich habe mein ganzes Leben lang (...) gegen einen Geist der Enge und der Gewalt, der Überheblichkeit und der mangelnden Ehrfurcht vor Anderen, der Intoleranz und des Absoluten, erbarmungslos Konsequenten angekämpft, der in den Deutschen steckt und der seinen Ausdruck in dem nationalsozialistischen Staat gefunden hat" heißt es in seinem Abschiedsbrief an die Kinder.

"Meine Liebe wird mit Dir gehen"

Dem Gefängnispfarrer Poelchau ist es zu verdanken, dass der Briefwechsel des Paares und damit auch der letzte Brief Freya von Moltkes an ihren "Jäm" der Nachwelt erhalten geblieben ist und ein Jahr nach ihrem Tod, wie sie es verfügt hatte, veröffentlicht werden durfte: "Meine Liebe wird Dich unermüdlich und unverdrängbar umgeben", heißt es darin, "Sie wird Dich einhüllen und wärmen, wenn Deine Feinde Dich umgeben, sie wird mit Dir gehen, wohin Du auch gehen musst. Nie, nie, nie hat sie ein Ende."

Dass die Aufführung ein Ende hatte, war der einzige Fehler daran. Diesen Akteuren hätten die – zu wenigen – Zuschauer wohl noch stundenlang bei der Arbeit zuschauen und lauschen können.

Kommentar: Wie damals

Von Karina Eyrich

Hätte Claus Schenk Graf von Stauffenberg, der gescheiterte Hitler-Attentäter vom 20. Juli 1944, gewusst, wie gering das Interesse in Lautlingen 78 Jahre nach seinem Tod am Thema Widerstand gegen den Nationalsozialismus sein würde – er hätte seine Ferien woanders verbracht als im Stauffenberg-Schloss. Dabei ist das Thema aktuell wie selten: Der Diktator, der planlos tötet, die Frage, wie man ihn stoppen kann, die Gegner des Bösewichts, die im Knast landen, gefoltert oder gar hingerichtet werden – passiert es nicht genau in dieser Minute? Das Betrachten einer szenischen Lesung mit Musik versetzt niemanden in die Lage, einen Krieg zu beenden, das ist leider wahr. Die Auseinandersetzung mit jenen, die Ähnliches erleben mussten wie die Ukrainer heute, von Wladimir Putin bekämpft, ist dennoch lehrreich. Sie zeigt, dass kein Diktator eine feste Haltung zu zerstören vermag.