Drei Millionen Versicherte der IKK classic haben ab 1. Juli nur noch begrenzten Zugang zu Hilfsmitteln – oder zahlen selbst. Apotheker schlagen Alarm.
Milchpumpen für junge Mütter, Inhalatoren für Asthmatiker, wiederbefüllbare Insulin-Pens für Diabetiker oder Augenpflaster für Kinder und vieles andere mehr – seit 1. Juli 2025 drohen für Millionen Versicherte der IKK classic massive Versorgungslücken bei wichtigen Hilfsmitteln.
Hintergrund ist das Auslaufen des bisherigen Hilfsmittel-Versorgungsvertrags zwischen dem Deutschen Apothekerverband (DAV) und der IKK classic. Ein neuer Vertrag kam nicht zustande – die Kasse bietet Preise, die so niedrig sind, dass Apotheken auf dieser Basis nicht mehr wirtschaftlich arbeiten können.
3 Millionen Versicherte der IKK classic
Das Problem betrifft potenziell drei Millionen Patienten der IKK classic: Ein Test auf dem neuen Hilfsmittel-Portal der Kasse hat ergeben, dass man zum Beispiel Blutdruck-Messgeräte in einer Kreisstadt der Region Stuttgart nur noch in zwei bestimmten Apotheken kaufen kann. Für die Beschaffung eines simplen Läusekamms muss man 10 Kilometer fahren, wobei die IKK classic allerdings zu den wenigen Kassen gehört, die das für Familien nicht unwichtige Utensil bis zu einem Alter von 12 Jahren überhaupt noch erstatten.
Windeln nur noch beim Hersteller?
Windeln sollte man laut IKK-classic-Portal wohl am besten direkt beim Hersteller Paul Hartmann in Heidenheim ordern. Zumindest steht das Unternehmen prominent an erster Stelle mit Service-Kontakt, Mail-Adresse und Hinweis auf „große Patientenzufriedenheit“ - falls die Zielgruppe das Schreiben von E-Mails überhaupt gewohnt ist. Außerdem wird vor Ort in der Kreisstadt eine inzwischen insolvente Apotheke als Windel-Bezugsquelle aufgeführt.
Elektro-Impuls-Geräte gegen Lähmungserscheinungen (TENS) soll man als Versicherter offenbar noch weiter außerhalb beschaffen. In jedem Fall müsse ein Vertragsarzt der IKK classic das jeweilige Hilfsmittel verordnen, so der ausdrückliche Hinweis. Dabei gilt: Nicht jeder Fach- oder Hausarzt kann immer ohne Weiteres Rezepte für alle Bereiche ausstellen.
Kein Hilfsmittel aus der Apotheke mehr
Der Apothekerverband Westfalen-Lippe (AVWL) schlägt deshalb Alarm: Die Versorgungssicherheit sei ernsthaft gefährdet. Apotheken könnten die Hilfsmittel zu den angebotenen Dumpingpreisen nicht liefern, ohne Verluste zu machen.
Das hätte entweder zur Folge, dass sie auf eigene Kosten arbeiten müssten – was langfristig zur Schließung vieler Betriebe führen könnte – oder dass die Patienten draufzahlen müssten. Beides sei unzumutbar, insbesondere für chronisch Kranke, Mütter oder Kinder, die auf eine schnelle Versorgung angewiesen sind.
Auch aus Thüringen kommt Kritik. Der dortige Apothekerverband betont, dass die IKK classic seit Jahren von alten Konditionen profitiere und die Verhandlungen zum neuen Vertrag schlicht verweigert habe. Es sei an sich Routine, dass ein Vertrag nach Auslaufen neu verhandelt wird. Doch diesmal sei von der Kasse keine Gesprächsbereitschaft mehr gekommen.
Gesundheitssystem im Rutschen - Präzedenzfall IKK classic?
Die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA) warnt vor einem gefährlichen Präzedenzfall: Wenn weitere Krankenkassen dem Beispiel folgen, könnte das gesamte System der Hilfsmittelversorgung ins Rutschen geraten. Der Sinn der Selbstverwaltung – ein Interessenausgleich zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern – werde zunehmend untergraben. Statt Verhandlungen gebe es einseitige Vorgaben, unter denen vor allem die Patienten zu leiden haben.
Lange Fahrt für den Asthma-Inhalator?
Die IKK classic verweist hingegen auf neue Partner außerhalb der Apothekenstruktur. Für viele Betroffene bedeutet das jedoch: längere Wege, unklare Zuständigkeiten und Verzögerungen. In ländlichen Regionen ist es laut Berufsverbänden möglich, dass die nächste Vertragsapotheke mehr als 50 Kilometer entfernt ist. Im Notfall – etwa bei akuten Atemproblemen – kann so etwas für das Gesundheitssystem sogar teurer werden als mit einem einfachen Hilfsmittel.
Die Apothekerschaft appelliert deshalb eindringlich an Politik und Öffentlichkeit, das System zu reformieren und faire Rahmenbedingungen zu schaffen. Es gehe nicht um wirtschaftliche Interessen, sondern um die Sicherstellung einer wohnortnahen, schnellen und qualitativ hochwertigen Versorgung.
Dieser Artikel erschien erstmals am 27. Juni und wurde am 1. Juli aktualisiert.