Die Bundestagsabgeordneten Robin Mesarosch und Thomas Bareiß (von links) lauschten, Landrat Günther-Martin Pauli und Bürgermeister Frank Schroft sprachen. Foto: Eyrich

"Herausforderungen der Energiewende" hat die Industrie- und Handelskammer Reutlingen-Tübingen-Zollernalb in den Mittelpunkt des IHK-Herbstempfangs gestellt – und einen Fachmann referieren lassen.

Meßstetten - Seinem Ruf, Klartext zu reden, ist Thomas Lindner, Vizepräsident der Industrie- und Handelskammer Reutlingen-Tübingen-Zollernalb (IHK), beim Herbstempfang in der Festhalle Meßstetten einmal mehr gerecht geworden und adressierte die frisch gewählten Bundestagsabgeordneten Thomas Bareiß (CDU) und Robin Mesarosch (SPD): "Die Aufgabe von Wirtschaftspolitik ist es, Unternehmertum zu ermöglichen und Rahmen zu setzen – nicht deren Inhalte zu bestimmen", so Lindner. Er hoffe, dass sich in der neuen Regierung die FDP durchsetze mit der Forderung, an der Schuldenbremse festzuhalten und eine Vermögenssteuer zu verhindern. Personengesellschaften seien heute schon mit bis zu 50 Prozent Steuern belastet, und die Administration dürfe nicht vergessen, dass der Wohlstand erst erwirtschaftet werden müsse, ehe man ihn verteilen könne.

Lindners Appell in Richtung Bündnis ’90/Die Grünen: Straßenprojekte kurz vor der Planfeststellung in Frage zu stellen, bedeute im Zollernalbkreis, in einer Region, "in der über Jahrzehnte zu wenig getan wurde", den Standortnachteil zu zementieren.

Forderungen nach einer Ausbildungsgarantie hält Lindner in Zeiten von Bewerberknappheit und Fachkräftemangel für deplatziert – besser sei es, die duale Ausbildung zu fördern. Schon 2035 werde in der Region Neckar-Alb jede fünfte Stelle unbesetzt sein. Mit einer Exportquote von 56 Prozent sei es für die Region wichtig, dass ein starker Wirtschaftsminister Deutschland vertrete, betonte Lindner mit Blick in Richtung China und USA, ehe er die Brücke schlug zum Hauptthema des Abends, die Energieversorgung als Standortfaktor, ohne die auch die Breitbandversorgung nutzlos sei. Obwohl der Anteil fossiler Energien im ersten Halbjahr 2021 bei rund 60 Prozent gelegen habe, würden "starke Anteile aus dem Markt genommen", so Lindner: "Erneuerbare Energien und Leitungstrassen müssen schnell und erheblich ausgebaut werden." Von Werner Götz, dem Vorsitzenden der Geschäftsführung der Transnet BW GmbH, erhoffte er sich Tipps, um "Akzeptanz und Technologieoffenheit in der Bevölkerung zu steigern".

Konkrete Tipps freilich lieferte Werner Götz nicht, dafür aber Zahlen. 85 Prozent der Menschen stünden hinter der Energiewende – das gelte es zu nutzen, zumal der Handlungsbedarf auch aus Klima-Sicht groß sei. Ein Entweder-Oder gebe es dabei nicht. Jede erneuerbare Energie sowie der Leitungstrassenbau seien nötig, um Bedarfsspitzen – vor allem im Süden und Westen – und Erzeugungsspitzen – vor allem im Norden Deutschlands – in Einklang zu bringen.

Oft kommt trotz des hohen Aufwands nicht viel heraus

Ein Problem sieht Götz in der Verschwendung von Tatkraft und Zeit, etwa durch die Untersuchungen möglicher Trassenverläufe, die am Ende zu nichts führten. Für "Südlink", eines der "Backbone-Projekte der Energiewende", seien 4500 Kilometer untersucht worden, die Trasse aber nur 700 Kilometer lang. 689 Veranstaltungen und 13 569 Bürgeranfragen sowie 106 untersuchte Tierarten stünden außerdem zu Buche. 300 Millionen Euro seien für Untersuchungen insgesamt ausgegeben worden, und von der ersten Idee 2012 dauere es voraussichtlich bis 2028, bis die Leitungen in Betrieb gehen könnten.

"Baden-Württemberg muss aufpassen, nicht abgehängt zu werden", sagte Götz mit Blick auf die Stromproduktionsschwerpunkte im Norden. "Wir planen auf Basis von Bedarfsprognosen, und wenn wir heute den Bedarf nicht hinterlegen, erhalten wir morgen keine Energie."

An Silvester 2022 gehe mit Neckarwestheim das letzte Kernkraftwerk vom Netz, daher gelte nun "Vorfahrt für Erneuerbare Energien und Netze". Götz ist überzeugt, dass in der Energiewende auch eine große wirtschaftliche Chance steckt – wenn es gelinge, die Verfahren vor Ort zu beschleunigen und Rückendeckung zu gewinnen. Das gescheiterte Beispiel Windpark Winterlingen hatte Thomas Lindner zuvor schon genannt.

Auf Interstuhl-Chef Joachim Links Frage riet Götz Unternehmern davon ab, selbst Strom zu produzieren. "Sonst bauen Sie redundante Kapazitäten auf und Stromlieferanten haben das Problem, dass es sich für sie nicht mehr rentiert."

Landrat Günther-Martin Pauli wies in seinem Grußwort auf den Zwiespalt vor Ort hin: "Wir sollen Fläche für Erneuerbare Energien zur Verfügung und gleichzeitig Artenschutz sicherstellen." Derzeit liege der Energieverbrauch in Baden-Württemberg bei elf Gigawatt im Jahr. Nach dem Kohle- und Atomausstieg fehlten sechs Gigawatt, die große Nord-Süd-Leitung bringe aber nur vier Gigawatt ins Land. Als positiven Beitrag zur Energiewende nannte Pauli die Idee des Meßstetters Matthias Frankenberg, Erster Landesbeamter, den Fuhrpark des Landratsamts mit recyceltem Speisefett zu betreiben.

Bürgermeister Frank Schroft gab zu bedenken, wie dringend es sei, Mitarbeitende für die Anforderungen der vierten Industriellen Revolution, der Digitalisierung, zu qualifizieren, und warb für den Interkommunalen Industrie- und Gewerbepark Zollernalb auf dem Meßstetter Geißbühl, wo der Zweckverband 250 000 Quadratmeter zusammenhängende Industriefläche entwickele.