Christian Diemer Foto: Khrystyna Kulakovska

Musik unter Bomben, Kunst im Schutzbunker: Der Krieg hat die Kulturszene in der Ukraine stark verändert. Darüber haben wir mit Christian Diemer gesprochen. Er hat Rottweiler Wurzeln, ist als Komponist, Musikforscher und Kulturmanager aktiv und sehr eng mit der Ukraine verbunden.

Rottweil - Drei Jahre lang hat Diemer in Kyjiw gelebt, kurz vor Kriegsausbruch hat er das Land verlassen. Das Team des EU-Programms "House of Europe", das er nun aus der Ferne leitet, ist größtenteils in der Ukraine geblieben.

Wenn die Cellistin Janina Ruh am heutigen Freitagabend zwei Musikstücke von Diemer beim "Sommersprossen"-Auftakt in Rottweil spielt, wenn er auf der Bühne mit anderen Komponisten und der Intendantin der Reihe "Dreiklang", Julia Guhl, an der Podiumsdiskussion teilnimmt, kann es sein, dass genau zu dieser Zeit seine Teamkollegen in der Ukraine statt Musik Explosionen hören.

Verbindung reaktiviert

Und das macht was mit ihm, sagt der 36-Jährige. Für ihn sei es eine schwierige Frage gewesen, ob es überhaupt vertretbar sei, Teil der Veranstaltung zu sein, wo mit Dmitry Batalov auch ein russischer Pianist im Programm ist.

Mit der Präsenz beim Festival wird für Diemer nach vielen Jahren eine Verbindung reaktiviert. 2003 bereits wurden seine Werke von Janina Ruh gespielt, auch damals war der Rottweiler Komponist Mathias S. Krüger dabei.

Doch 2022 ist vieles anders: Aus einem musikbegeisterten Schüler ist ein international aktiver Musikforscher und Komponist geworden und der Leiter des größten Kulturprogramms, das die EU in einem Land außerhalb ihrer Grenzen aufgelegt hat. Und 2022 herrscht Krieg in der Ukraine – in einem Land, das Diemer sein zweites Zuhause nennt. Auch deshalb sucht er eine intensivere Auseinandersetzung mit der Situation.

Brückenbauen durch die Musik?

"Im Umgang mit Russland und russischen Künstlern haben viele Deutschen diesen Reflex der Verständigung, des Brückenbauens, beispielsweise durch die Musik, durch die Kunst", stellt er fest. Man möchte durch diese "versöhnliche Brille" sehen, "weil das eine sehr schöne Geschichte ist". Und auch eine bequeme, die erlaubt, an einem grundsätzlich positiven Bild von der russischen Gesellschaft und ihrer "großen" Kultur festzuhalten. Dies sei allerdings eine Perspektive, die nicht nur für die betroffenen Ukrainer eine Zumutung sei.

Denn: Sie gehe laut Diemer schlicht an der Realität vorbei. "Russland führt einen Vernichtungskrieg mit dem Ziel, die ukrainische Kultur auszurotten. Museen werden bombardiert, Kinder deportiert und in Umerziehungslager gesteckt, Frauen vergewaltigt mit dem erklärten Ziel, dass sie danach zu sexuellen Kontakten nie mehr in der Lage sein sollen", sagt er.

"Dieser Krieg hat etwas Genozidales. Und das wird leider von der Mehrheit der russischen Bevölkerung gebilligt oder sogar gefeiert", wird er deutlich. Die Kulturszene sei nicht ausgenommen – auch wenn viele Künstler das Land verlassen und vor dem repressiven Regime fliehen.

"Solidarität im Paket" geht nicht

Diemer macht klar: "Das Problem, das ein russischer Dissident hat, und das Problem, dass ein Ukrainer hat – das sind zwei verschiedene Paar Stiefel." Es sei nicht richtig, beide als Putins Opfer, als Leidgenossen darzustellen und von ihnen Verbrüderung einzufordern. "Diese Solidarität im Paket, das geht so nicht." Sein Appell: "Wir müssen lernen, über die Ukraine nachzudenken, ohne sofort über Russland nachzudenken."

Denn die Ukraine habe man in Deutschland zu lange vernachlässigt. "Wir verstehen auch den Krieg nicht, weil wir über das Land so wenig wissen", ist Diemer überzeugt. Der Vorwurf ist nicht zu überhören. Dabei sei es "ein Land, das uns geografisch, kulturell und historisch sehr nah liegt – oder sehr nah liegen sollte".

Das Land mit einem Koffer in der Hand verlassen

Ihn selbst hat es vor Jahren während einer Exkursion von der Universität in die Ukraine verschlagen. "Ich habe mich in das Land verliebt", erinnert er sich. Sofort war auch Diemers Interesse für die traditionelle Musik des Landes geweckt – und für die Frage nach der nationalen Identität im internationalen Kontext. Mit der Kulturszene des Landes setzte er sich dann mehrere Jahre in seiner Forschungsarbeit intensiv auseinander – und fördert sie nunmehr auch ganz praktisch im Rahmen des Zwölf-Millionen-Programms "House of Europe".

Mittlerweile von Deutschland aus: Die Ukraine musste er am 14. Februar verlassen, mit einem Koffer in der Hand. "Ich musste es im Zuge der Reisewarnung tun. Es war kein schönes Gefühl, quasi in einer Nacht-und-Nebel-Aktion wegzurennen", sagt Diemer. Seine Partnerin blieb und wachte zehn Tage später von dem Geräusch von Explosionen auf. Erst nach Tagen in Schutzräumen konnte sie das Land verlassen.

Humanitäre Güter statt Buchübersetzungen

Doch was hat der Krieg mit der Kulturszene im Land gemacht? Die Auswirkungen, die Diemer schildert, sind vielschichtig. Einerseits ging es vor allem im ersten Moment darum, schnell zu reagieren und dort zu helfen, wo Hilfe besonders nötig war. "Wir haben binnen weniger Wochen anderthalb Millionen aus dem House of Europe-Budget umgewidmet und ein Notfallpaket zusammengestellt." Statt Buchübersetzungen oder Festivals für Kreativwirtschaft werden nun humanitäre Güter oder zivilgesellschaftliche Initiativen gefördert, die psychologische Unterstützung für Kinder und schwangere Frauen in Bunkern anbieten oder die Museen evakuieren, nennt er einige Beispiele.

Andererseits werden auch in der akuten Kriegssituation weiterhin Kulturprojekte gemacht. "Die Künstler verarbeiten das Thema, auch um ihm internationale Sichtbarkeit zu verschaffen", erklärt Diemer. Auch sein Team in der Ukraine sei präsent und aktiv. Eine weitere, traurige Auswirkung: "Es gibt auch Künstler, die an der Front sterben. Auch diese Seite gibt es."

Die Ukraine im Stich zu lassen, wäre verheerend

Für Diemer ist klar: "Es ist wichtig, dass das Thema nicht aus dem Fokus rückt, dass keine Ermüdung einsetzt. Die Ukraine im Stich zu lassen, wäre moralisch schlimm – aber auch für Deutschland absolut verheerend." Auf der einen Seite stehe das russische System aus Korruption, Unterdrückung, Imperialismus und brutaler Gewalt. Auf der anderen der Wille zu Freiheit, Demokratie und individueller Entfaltung, den die Ukraine lebe und den Russland brechen möchte, nicht nur in der Ukraine, sondern überhaupt. "Für Russland geht es um alles oder nichts", sagt Diemer. "Für uns – auch wenn wir das vielleicht nicht wahrhaben wollen – leider auch."