Der Wirbelsturm, der im Jahr 1913 Mühlen und Nachbargemeinden heimsuchte, verursachte starke Schäden an Häusern. An diesem Haus wurde die Fassade weggerissen. Foto: Schwarzwälder-Bote

Vor 100 Jahren richtete ein Unwetter in Mühlen und im Gäu Verwüstung an / Königin Charlotte von Württemberg vor Ort zu Besuch

Von Timo RenkHorb-Mühlen. Man glaubt sie immer häufiger zu hören: Meldungen über Wetterextreme, die in immer kürzeren Abständen und mit immer stärker werdender Gewalt auftreten. Doch schlimme Unwetter sind nichts Neues: Im Juni vor 100 Jahren brach ein Wirbelsturm über Mühlen herein.

Obwohl das Frühjahr und der Sommer 1913 als insgesamt kalt und verregnet galten, gab es im Mai und Juni 1913 eine Reihe von schweren Gewittern in Horb und Umland.

Am 30. Mai 1913 musste Rohrdorf und am darauffolgenden Tag Ahldorf große Flurschäden infolge starker Gewitter melden. Bereits einen Tag später, am 1. Juni 1913, tobte in Plochingen ein schweres Unwetter mit Wirbelwinden, was zu beträchtlichen Gebäudeschäden führte. Niemand ahnte zu diesem Zeitpunkt, dass als nächstes auch der damalige Oberamtsbezirk Horb von einer solchen Katastrophe heimgesucht werden würde.

"Hühnerei-große" Hagelkörner in Horb

So kam schließlich das Unwetter vom 4. Juni 1913 und sollte vermutlich für viele Menschen das bisher Vorstellbare übertreffen. Mittwoch, 4. Juni 1913: Gegen 16 Uhr erreichte eine Gewitterfront aus dem Südschwarzwald den Raum Horb. Wie auch in den Tagen zuvor ging dieses Unwetter mit starkem Regen und Hagelschlag einher. Die "Hühnerei-großen" Hagelkörner sorgten in der Stadt Horb (und generell im westlichen Bereich des Oberamtsbezirks) für die üblichen Schäden, wobei auch einige Fenster, Glasdächer und sogar auch Ziegel zu Bruch gingen. In Mühlen, oder besser gesagt ab Mühlen, sollte es aber nicht bei diesen üblichen Gewittersymptomen bleiben. Um 16.15 Uhr entstanden auf Höhe des Mühlener Bahnhofs mehrere Luftwirbel, die durch Mühlen zogen, gleichzeitig Ahldorf streiften, dann das Neckartal in Richtung Eutingen und Rohrdorf verließen und über das obere Gäu zogen, ehe sich die Wirbel westlich von Bondorf (hinter Niederreuthin) wieder auflösten. Zu diesem Entschluss kam zumindest Professor L. Meyer von der meteorologischen Zentralstation, welcher am 10. Juni 1913 die hiesigen Schäden besichtigte (Entnommen aus einer damaligen Lokalzeitung vom 13. Juni 1913).

Innerhalb weniger Minuten wurden in Mühlen an zahlreichen Gebäuden die Dächer abgedeckt, ganze Dachstühle freigelegt und Hauswände herausgeschlagen. Bei einem Wohngebäude fiel der Dachstuhl regelrecht in sich zusammen. Die Scheune der Bachmühle sowie die Scheunen zweier weiterer Häuser erlitten ebenfalls größere Schäden. Als schmerzlich dürfte auch die Zertrümmerung der erst ein Jahr zuvor errichteten Gewächshäuser der Gärtnerei Jenisch (später Staiger) gewesen sein. Zudem säumten umgeworfene Bäume beider Pappelalleen die jeweiligen Ortseingänge in Richtung Horb und Eyach.

In Richtung Eyach blieb scheinbar auch das Sägewerk Bürkle nicht verschont, ebenso wenig der Friedhof und die zu der Zeit noch im Bau befindliche katholische Kirche, deren "Turmhelm abgehoben wurde". Einen großen Schrecken dürften sicherlich auch die Arbeiter der Firma Landenberger erlitten haben, als dort der 18 Meter hohe und drei Meter breite Schornstein dem Druck des Wirbelsturms nachgab und zum großen Glück nicht auf das Fabrikgebäude, sondern auf die Wiesen stürzte.

Bei alledem hatte Mühlen wirklich großes Glück. Tote mussten keine verzeichnet werden, und die wenigen Schwerverletzten sollten sich wieder von ihren körperlichen Schäden erholen. Allerdings wütete das Unwetter nicht nur im Ort, auch die umliegenden Wälder bekamen die enorme Wucht des Wirbelsturms zu spüren. So heißt es in einer Lokalzeitung vom 5. Juni 1913, in Anspielung auf die Wirbelsturmkatastrophe von Plochingen: "Das Unglück, das mit dem gestrigen Unwetter über unsere Nachbargemeinde Mühlen a. N. hereinbrach, ist besonders deshalb größer als das Plochinger, weil der zerstörenden Wut der Windsbraut ein großer Teil der Gemeindewaldungen zum Opfer fiel. So wirkt für Mühlen, dessen Gemeindekasse aus diesen Waldungen alljährlich beträchtliche Einnahmen erzielte, das Unglück noch auf Jahre und Jahrzehnte, auf Kinder und Kindeskinder nach!"

In der Tat zeugte eine immense Menge an entwurzelten oder umgeknickten Nadelbäumen in den Waldgebieten beider Talseiten von der gigantischen Kraft, die der Wirbelsturm besaß. Dort, wo Minuten zuvor noch die Waldflächen durch die Baumkronen der kollabierten Bäume bedeckt waren, klafften nun riesige Lichtungen. Außer den umherliegenden Bäumen erinnerte nichts mehr an einen Wald. In gewisser Weise ist man den damaligen Fotografen zum Dank verpflichtet, denn ohne ihre Dokumentation wäre das Ausmaß dieser Zerstörung wohl kaum vorstellbar. Am 13. November 1913 fand in Mühlen eine Versteigerung für Großabnehmer (Unternehmer, Sägewerke), des im Gemeindewald aufbereiteten Sturmholzes statt.

Die Zahlen aus dieser Versteigerung beliefen sich auf insgesamt 6598,69 Festmeter und 19 541 Stangen Holz. Für diese Zahlen dürften vermutlich zwischen 3000 und 5000 Bäume zugrunde gelegen haben. Zur Beseitigung der forstwirtschaftlichen Schäden bedurfte es natürlich eines raschen Arbeitseinsatzes von Holzhauern, für deren Löhne die Gemeinde Mühlen Darlehen aufnehmen musste. Mit Karl Schlotter, Johann Wengel und Karl Heller waren auch drei Mühlener unter den insgesamt 36 Holzhauern, die bis Ende September 1913 mit den Aufräumarbeiten beschäftigt waren. Angeblich sollen auch Insassen der Justizvollzugsanstalt Rottenburg für diese Arbeiten in und um Mühlen herangezogen worden sein, wie der "Staatsanzeiger" in einem Bericht vom 10. Juni 1913 erwähnt: "(...) Eine Anzahl Gefangener aus dem Landesgefängnis in Rottenburg ist mit den Aufräumungsarbeiten beschäftigt (...)"

Gemeinde und 94 Privathaushalte erhalten 219 746 Ziegel

Als erste Maßnahmen galt es aber die durch den Sturm empfindlich beschädigten Gebäude im Ort provisorisch zu stabilisieren und die Beseitigung der dortigen Verwüstungen vorzunehmen.

Hierfür kam die Feuerwehr, die noch durch Abteilungen aus Horb, Ahldorf, Bildechingen, Rohrdorf und Weitingen unterstützt wurde, zum Einsatz. Außerdem stellte die Gemeinde noch 17 Taglöhner ein, um so möglichst rasch dem unerträglichen Zustand Herr zu werden.

Etwas wurde vor allem auch ganz dringend benötigt – Ziegel! Am 5. Juni 1913 traf Christian Heindel, der damalige Schultheiß von Mühlen, einen Vertreter des in Stuttgart ansässigen "Verkaufsvereins Süddeutscher Ziegelwerke GmbH". Hier wurde für die darauffolgenden zwei bis drei Tage eine erste Lieferung von insgesamt 133 500 Ziegel vereinbart. Christian Heindel wird als gelernter Zimmermann nur zu gut gewusst haben, dass diese ersten Lieferungen nicht ausreichen würden. Im Ortsarchiv von Mühen findet sich in den Gemeinderechnungen von 1913 eine interessante Auflistung der gelieferten Ziegel. Demnach erhielten die Gemeinde und 94 Privathaushalte insgesamt 219 746 Ziegel.

Die Sturmgeschädigten erfuhren aber auch schöne Gesten der Solidarität. Mehrere Vereine der näheren Umgebung übergaben Geldspenden an die betroffenen Gemeinden (Mühlen, Ahldorf, Eutingen, Rohrdorf, Göttelfingen und vor allem auch Baisingen).

Im "Lindenhof" in Horb fand am 11. Juni 1913 ein Künstlerkonzert statt, dessen Erlös für das Katastrophengebiet bestimmt war. Am 24. Juni 1913 konnte die Stadt Horb aufgrund spendenwilliger Bürger einen Betrag in Höhe von 944,45 Mark vorweisen. Auch das Kurhaus "Palmenwald" in Freudenstadt übergab Ende Juni eine Spende (160 Mark), genauso wie die Abteilung Freudenstadt des "Frauenvereins des Roten Kreuzes", welche Anfang August einen Wohltätigkeitsbasar zugunsten der Unwettergebiete abhielt.

Landesweit rief die "Zentralleitung für Wohltätigkeit" zu Geldspenden auf. Mitte Juli 1913 belief sich deren Spendentopf auf 33 000 Mark wobei dies auch durch größere Beträge der königlichen Familie zurückzuführen war. Die Spendensammlung dieser Organisation wurde noch bis zum Herbst weitergeführt.

Ein prominentes Mitglied dieser "Zentralleitung für Wohltätigkeit", welches dieser Organisation vermutlich auch vorstand, besuchte am 18. Juni 1913 unter anderem auch Mühlen: Charlotte Königin von Württemberg, die Ehefrau von Wilhelm II., damaliger (und letzter) König von Württemberg.

In einer Lokalzeitung vom 1. Juli und 15. Juli 1913 werden die Gebäudeschäden wie folgt beziffert: Ahldorf 3370 Mark, Baisingen 62 560 Mark, Eutingen 12 340 Mark, Mühlen 59 810 Mark und Rohrdorf 1000 Mark. Auch die Schäden an Obstbäumen werden hier genannt: Ahldorf 17 519 Mark und Baisingen 146 749 Mark.