Kultur: Künstlerhausbewohner Steffi und Klaus produzieren mit 60 internationalen Musikern spannende Klangerlebnisse

Wer mal die alten Filme und Dokus über die Stones oder andere Bands gesehen hat, weiß: So mancher Welthit ist mühsam entstanden. Im Keller, mit Whisky, nächtelangem Üben, Reden, Rauchen, Streiten. Geht das auch im Homeoffice? Klar, meinen Stephanie Müller und Klaus E. Dietl.

Horb. Müller und Dietl, beides Künstlerhaus-Bewohner, lachen: "Wir haben den Probenkeller sozusagen weltweit zusammengeschaltet!" Klaus hat die Haare schön und den Synthesizer im Griff wie Thomas Anders. Steffis Augen blitzen, ihr Lächeln strahlt beim Singen wie bei Dieter Bohlen. Modern Talking. Ziemlich künstlich damals im MTV.

Klaus und Steffi mögen es musikalisch rauer, intensiver und – wie man beim Auftritt der Künstlerhaus-Band "Leinslions" in Kleintierkostümen gesehen hat – auch skurril. Und nicht so geschleckt wie Thomas und Dieter. Doch kriegt man das auch im Home-Office hin? Klaus hält das von Gemma Meulendijks und ihm gestaltete blaue Platten-Cover der Band "Alligator Gozaimasu" hoch: "Das ist schon die sechste Platte, die wir fertig haben!" Steffi: "Da machen weltweit bis zu 60 Musiker mit."

Okay. Klar. Jeder spielt seine Samples ein, schickt sie rüber, und einer mischt das zusammen. Wo bleibt da das Bandkeller-Feeling? Die Magie, die genau dann entsteht, wenn man nebeneinander steht und keinem was einfällt? Charlie genervt was pfeift, Keith das auf der E-Gitarre nachklimpert und dann plötzlich der Riff von "Satisfaction" aus den Boxen fetzt?

Steffi sagt: "Es ist erstaunlich, aber das funktioniert über die Videokonferenz super! Im März, wo alles stillgelegt war, haben wir angefangen!" Klaus meint: "Ich merkte, wie bei Steffi das Wasser kochte und der Deckel vor lauter Stillstand hochzugehen drohte. Da haben wir unsere Kollegen vom Projekt von Alligator Gozaimasu angeschrieben und mit dem Online-Bandkeller begonnen!"

Gab es auch mal so Knall-Momente wie bei den Stones im Online-Bandkeller? Steffi lacht: "Klar. Gleich am Anfang. Es muss wohl der 27. März abends gewesen sein. Colin Djukic aus München hat mitbekommen, wie der Nachbar seine beiden Kleinkinder im Sandkasten angeschrien hat, sie sollen auseinandergehen. Wegen Corona. Diese Blockwart-Mentalität – Brüllen statt miteinander zu sprechen – hat ihn aufgeregt, und er hat den Song geschrieben ›We don‘t want no Fascist State!‹."

Lina Zylla, die auch mit in der Band ist, war das zu direkt. Sie schätzt Offenheit, wenn beim Zuhören ganz eigene Fragen entstehen. Da ging es hoch her. Doch es kam etwas Gutes dabei raus: Der Text blieb zwar, aber Colin hat seine Kinder mit eingebaut, wie sie ihn im Home-Office in der Videokonferenz mit Töpfe-Schlagen nerven. "Das war Gold wert – denn so hat der Song auch akustisch den Bruch bekommen zwischen Wut auf den Blockwart-Nachbarn und den Nerv im Home-Office!"

Ein zweiter typischer Online-Bandkeller-Moment: im Herbst. Steffi erzählt: "Nicolai Herrmann, dessen Bruder in Horb lebt, hat eine wunderbare Ballade im herbstlichen Gitarrenbett komponiert. Dazu Chor-Stimmen aufgesungen. Ich hatte Lust, auch eine Gesangsspur aufzunehmen – doch ich habe gemerkt, das ist nicht meine Baustelle. Da sind dan n andere aus der Alligator-Band  aktiv geworden und es war ein perfektes Match!"

Sechs Langspielplatten, eine 60-köpfige Band aus aller Welt. Das kriegt man doch nicht von Horb aus dem ersten Lockdown raus gestemmt, oder? "Nein", lachen die beiden. Die 2014er-Tour von Stephanie Müllers Band Beißpony führte zum Treffen mit dem japanischen Medienkünstler Mikio Saito. Der lud die beiden gemeinsam mit Klaus E. Dietl nach Japan ein – nach Sapporo. Die drei deutschen Künstler tauchten in die Subkultur ein – nahmen gemeinsam auf, produzierten Musikvideos und spielten dort Konzerte. Und die Japaner kamen dann zum Gegenbesuch – so war Alligator Gozaimasu geboren.

Jetzt im ersten Lockdown kamen Klaus und Steffi auf die Idee, dieses Projekt wieder zu beleben. Nur online. Natürlich auch mit den Künstlerhaus-Mitbewohnern Mimosa Pale und Helena Hartmann. Aber auch jeder Menge Musikern aus Übersee. Mit so mancher Überraschung. Steffi stöhnt: "Die Technik. Da spielen wir zu sechst, in Indonesien wird aufgenommen. Sein Ton kommt perfekt rüber, unser Ton kommt nur mit Unterbrechungen an. Da merkt man, wie gut das Internet in Horb ist. Doch am Ende sind genau diese Latenzen und Störungen, die man sonst rausschneiden würde, ein spannender Teil der Musik."

Klaus schmunzelt: "Für einen Chorpart habe ich mich breitschlagen lassen zu singen. Das traue ich mich sonst nicht. Ich dachte, ich singe mit 60 anderen gemeinsam. Als das Stück dann abgemischt war, hört man fast nur meine Stimme! Stolz war ich doch irgendwie."

Doch der Online-Musikkeller – der seine Initiatoren im Horber Künstlerhaus hat – bringt auch jede Menge tolle Momente. Steffi meint: "Es ist schon klasse, wenn du hier im Atelier singst und jemand in der Ukraine spielt eine tolle Western-Gitarre dazu." Klaus sagt: "Mich fasziniert: Durch das Online-Format können wir auch immer neue Musiker einbinden. Kinder zum Beispiel. Wir haben einen Horber mit sehr viel Lebenserfahrung dabei, der spielt ganz toll Akkordeon. Diese Klangwelten zu verbinden und die Menschen zusammenzubringen – das ist es, was den Online-Bandkeller von Alligator Gozaimasu so spannend macht."

Weitere Informationen: Die Alben von "Alligator Gozaimasu" gibt es auf der Musikplattform Bandcamp. Der Erlös geht an die zivile Seenotrettung Sea Watch e.V.