Brigitte Anheier genießt in ihrem Ruhestand erst mal den Frühling in Tübingen. Foto: Müssigmann Foto: Schwarzwälder Bote

Soziales: Brigitte Anheier blickt auf 34 Jahre in der psychologischen Beratungsstelle zurück

1983 war Deutschland geteilt, die Friedensbewegung gewann an Fahrt und eine junge Frau trat in Horb ihre Arbeit bei der psychologischen Beratungsstelle an. 2018 geht sie in den Ruhestand. In dieser Zeit hat sich viel verändert – in der Welt, in Ehen und Familien.

Horb. Nach 34 Jahren hat sich Brigitte Anheier dieses Frühjahr mit 63 Jahren selbst in Rente geschickt, wie sie sagt. Erst mal hat sie sich ein halbes Jahr Nichtstun und Treibenlassen verordnet. Und dann: "Sehen, was kommt." Am Freitagnachmittag wird sie offiziell von Kollegen und Wegbegleitern verabschiedet. Zuletzt leitete sie die psychologische Beratungsstelle der Diözese Rottenburg-Stuttgart knapp zehn Jahre lang. Als Beraterin hat sie gesellschaftlichen Wandel über zwei Generationen beobachtet und miterlebt. Dabei ist vieles komplizierter geworden, findet sie, Freiräume sind geschrumpft und das Alleinsein wurde beinahe verlernt.

In der Beratungsstelle werden Erziehungs- und Familienberatung, Ehe- und Partnerschaftsberatung sowie Lebensberatung angeboten. Scheidungen waren zu Beginn ihrer Arbeit noch deutlich seltener als heute, Scheidungskinder stigmatisiert. Das hat sich geändert. In all den Jahren ihres Arbeitens sind die Familienstrukturen komplizierter geworden. Patchworkfamilien müssten "viel basteln", sagt Anheier, um sich beispielsweise nach Trennung der Eltern in neuen Konstellationen wieder zu finden. Die Familie sei aber weiterhin ein großer Schutzfaktor, wenn es um psychische Gesundheit geht.

Doch mit der Komplexität der Familienstrukturen ist auch die Verunsicherung gewachsen. Darf ein Kind die Stiefmutter Mama nennen? Wie heißt die Frau des geschiedenen Opas – Oma? Anheier hat es nicht als ihre Aufgabe begriffen, Probleme für andere Leute zu lösen. "Ich gebe Hilfestellung, wie beim Sport. Die Übung müssen die Leute schon selber machen."

Sie habe versucht, jeden in der Familie zu verstehen, aber für niemanden Partei zu ergreifen – außer es ging um Gewalt oder Kinderschutz. Auch wenn jemand die Realität verkannte hat sie eingehakt und klare Worte gewählt, beispielsweise wenn jemand die Vorstellung hatte, eine Trennung könne ohne Schmerzen ablaufen.

Beim Ausräumen ihres Horber Büros hat Anheier alte Artikel aus den 80er-Jahren gefunden, die auch zeigen, wie stark sich die Kindheit verändert hat. "Damals wurde beklagt, dass Kinder durch den Einfluss des Fernsehens weniger draußen spielen", sagt Anheier. Inzwischen seien die Freiräume vieler Kinder weiter geschrumpft – zum einen, weil sogenannte Helikoptereltern ihre Kinder nie aus den Augen lassen, zum anderen weil neue Medien heute viel Aufmerksamkeit von Kindern und Jugendlichen bannen, wie Anheier sagt. Die Kleinen könnten ihren Drang, Dinge auszuprobieren, nicht mehr nachkomme. "Kinder sind kleine Forscher, man muss sie einfach nur lassen", sagt Anheier.

Selbst nach dem Auszug junger Erwachsener bleibe das Handy "Nabelschnur" zum Elternhaus. Sie erinnert sich an ihre Studentenzeit, in der sie nicht ein mal ein eigenes Telefon besaß. Das Handy verhindere das Alleinsein und das "Sich selbst aushalten", was aber Grundlage dafür sei, andere auszuhalten und beziehungsfähig zu sein.

In den 50-minütigen Beratungen war immer das Telefon ausgeschaltet. Sie habe Klienten gehabt, für die schon diese Ruhe gepaart mit konzentrierter Aufmerksamkeit heilsam gewesen sei. Sie ist besorgt, wenn sie Eltern mit dem Handy in der Hand den Kinderwagen schieben sieht. Aus Sicht des Kindes befinde sich das Gerät zwischen ihm und den Eltern. "Das macht was mit der Beziehung."

Was sich während ihres Berufslebens noch verändert hat: Es kommen mehr Männer in die Beratung – "für Männer ist es nicht mehr so schambehaftet, sich Hilfe zu holen."

Der katholische Hintergrund der Horber Beratungsstelle war Anheier persönlich und ihrem Team wichtig. In der Beratungsarbeit habe der christliche Glaube aber nur dann eine Rolle gespielt, wenn die Klienten das Thema mitbrachten. Auch Muslime kommen demnach in die Beratung.

Dass eine kleine Stadt wie Horb eine psychologische Beratungsstelle habe, die so großes Vertrauen bei Klienten genieße, sei Glück. "Es gibt Gegenden, die sind schlechter versorgt", sagt Anheier.

Brigitte Anheier ist bei Bonn aufgewachsen, hat in Marburg Soziologie und Pädagogik studiert – in letzterem Fach hat sie auch ihren Abschluss gemacht. Vier Jahre lang hat sie danach in Niedersachsen in einer Erziehungsberatungsstelle gearbeitet. 1983 wollte sie "Bewerbung üben". Aus Horb kam prompt die Zusage. Anheier, damals noch ledig, zog in die Region. Heute lebt sie in Tübingen.