Unter den 65.000 Konzertbesuchern in Chemnitz befinden sich auch mehrere Horber. Foto: Willnow

In Chemnitz setzen Bürger aus ganz Deutschland Zeichen gegen Rassismus - darunter auch Horber.

Horb/Chemnitz - 65.000 Menschen kamen am Montag zum #Wirsindmehr-Konzert nach Chemnitz. Vor der Bühne standen auch mehrere Horber.

"Dass wir heute alle hier sind, ist der Beweis, dass die Welt doch glücklich, bunt und wunderbar sein kann", sagte Rapper Casper auf der Bühne des #Wirsindmehr-Konzerts in Chemnitz. Als Reaktion auf die ausländerfeindlichen Ausschreitungen nach dem Messermord auf dem Chemnitzer Stadtfest hatten sich mehrere Musiker – darunter die Toten Hosen, K.I.Z., Kraftklub, Materia und Feine Sahne Fischfilet – entschieden, am Montag in der sächsischen Stadt ein Gratiskonzert zu geben. Unter dem Motto #wirsindmehr sollte ein Zeichen gegen Rassismus gesetzt werden. Die Rechnung ging auf: Mit 20.000 Besuchern rechneten die Organisatoren, 65 000 kamen – darunter auch einige Horber.

Meret Hellstern und Lukas Fritz

"Die Idee ist am Freitagabend im Holzwurm entstanden", grinsen Meret Hellstern aus Dettingen und Lukas Fritz aus Dießen, die dann am Montag mit insgesamt vier Leuten nach Chemnitz gefahren sind. Aufgrund des Verkehrschaos schafften es die Horber erst, beim K.I.Z.-Auftritt vor der Bühne zu stehen, wo sie nicht den besten Platz erwischten. "Die Boxen waren nicht auf diesen Ansturm ausgelegt. Wir haben daher nur wenig von der Musik mitbekommen", schmunzelt Fritz. Das sei aber gar nicht so schlimm gewesen, verdeutlicht Hellstern: "Klar, manche sind nur wegen den Bands gekommen, aber den meisten Leuten ging es da um etwas ganz anderes." Fritz pflichtet ihr bei: "Das war eine unglaublich schöne Atmosphäre bei dem Konzert. Obwohl es so eine Menschenmasse war, ging das Zwischenmenschliche nie verloren." Für die beiden Horber steht fest: "Schön, dass man in Deutschland aus so einem Grund so kurzfristig so viele Menschen mobilisieren kann. Vielleicht ändert das Konzert nichts, aber man hat da ein wichtiges Zeichen gesetzt."

Christian Ott

Mit zwei Mitstreitern machte sich Christian Ott, Leiter der Horber Lautpegel-Musikschule, am Montag auf den Weg nach Chemnitz. Auch er war baff über die Menschenmassen: "Ich hätte nicht gedacht, dass so viele Leute hinfahren. Darum habe ich gesagt, dass ich da hinmuss." Vor der Bühne stand der Musiklehrer, der in Horb die Konzertreihe "Rock gegen Gewalt" aus der Taufe hob, dann in prominenter Runde – nur etwa zehn Meter entfernt vom Bundestagsabgeordneten Anton Hofreiter (Grüne). Genau das war aus Otts Sicht aber ein Manko des #Wirsindmehr-Konzerts: "Warum ist er nicht vor auf die Bühne gegangen? Schade, dass kein ernstzunehmender Politiker gesprochen hat. Ich hätte mir mehr vernünftige politische Statements gewünscht. Ich würde nicht jede Aussage unterschreiben, die da von der Bühne kam." Denn keinen Sinn mache es aus seiner Sicht, "in die andere Richtung zu hetzen". Am besten gefiel Ott hingegen ein Satz, der ausgerechnet von der umstrittensten Band des Konzerts kam: Feine Sahne Fischfilet. "Ich bin kein Fan der Band, aber ich fand die klare Botschaft des Sängers gut: Es ist egal, wer wen mit einem Messer absticht – er ist ein Arschloch", sagt der Musikschulleiter, der sich auch über die bunte Mischung des Publikums freute: "Es war alles da. Vom Punk mit Iro und Antifa-Fahne bis zum typischen Festival-Gänger, der politisch nicht unbedingt aktiv den Mund aufmacht." Um 4 Uhr in der Nacht kam Ott mit seinen Mitstreitern schließlich wieder in Horb an. "Bürgerpflicht erfüllt", unterstreicht Ott.

Leonie Sayer

Auch eine Exil-Horberin war in Chemnitz dabei: Leonie Sayer. Die 22-Jährige lebt seit neun Monaten in Mainz und studiert dort Politikwissenschaften und Philosophie. Sie sagt: "Es war ein unglaublich überwältigendes Gefühl, in dieser Menschenmasse zu stehen und zu wissen, dass uns das selbe Motiv bewegt: laut zu werden gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Ich glaube, dass jüngste Bilder des rechten Aufmarsches wie die aus Chemnitz viele Leute zum Aufwachen gebracht haben." Sayer, die in Chemnitz ebenfalls unweit vom Grünen-Politker Hofreiter vor der Bühne stand, macht deutlich: "Ich glaube, dass es viele Menschen gab, die lange unpolitisch waren und jetzt wirklich den Ernst der Lage begriffen haben. Dieses Gefühl hatte ich bei #wirsindmehr. Es hat Menschen aus allen möglichen Spektren vereint und gemeinsam sind wir nicht nur mehr, wir haben auch unglaubliches Potential, etwas zu bewegen." Die 22-Jährige hofft nun, dass das Signal, das mit dem #Wirsindmehr-Konzert in Chemnitz ausgesendet wurde, ebenso in Horb ankomme: "Das Wichtigste ist, dass die Menschen aufstehen, laut werden. Immer und immerzu, wenn sie im Alltag mit Rassismus und Fremdenfeindlichkeit konfrontiert sind. Nächstes Jahr sind Kommunalwahlen in Horb und es gibt keine wichtigerere Zeit als die allgegenwärtige, von seinem Stimmrecht Gebrauch zu machen. Die AfD ist auch in Horb und den umliegenden Teilorten verteten. Das Gefährlichste – und das hat man auch in Chemnitz gesehen – ist, diese Partei, ihre Ideologien und ihre Anhänger zu unterschätzen."

Seite 2: Viel Solidarität in Horb

Horb /Empfingen. Von Chemnitz aus wurde mit dem #Wirsindmehr-Konzert eine Botschaft gegen Rassismus in die ganze Bundesrepublik gesendet. In Horb ist sie angekommen: Viele Bürger solidarisieren sich, unter anderem durch das Ändern ihres Facebook-Profilbilds – und wünschen sich auch Aktionen in der Neckarstadt.

Frerc ks Hartwig

Der Dettinger Tennislehrer Frercks Hartwig engagiert sich in Horb seit Jahren gegen Rassismus und machte schon früh auf das Chemnitzer #Wirsindmehr-Konzert aufmerksam. "Aktiv werden heißt für mich: laut gegen Fremdenfeindlichkeit, Islam-Phobie und Rassismus, klar und öffentlich, im Freundeskreis, im Verein, in den sozialen Netzwerken, überall. Solche Konzerte und die politische Positionierung von Vorbildern sind notwendig", sagt Hartwig und unterstreicht: "Natürlich finde ich die Bewegung gut und wichtig. Ich teile aber auch die Skepsis, dass das nur ein Baustein in einer nun hoffentlich folgenden klaren Positionierung der bisher schweigenden Mehrheit gegen den aufbrechenden Faschismus sein darf." Das #Wirsindmehr-Konzert habe der Tennislehrer im Livestream angeschaut – "soweit es neben den Horber Tennis-Stadtmeisterschaften möglich war."

Benja min Breitmaier

Für Diskussionen sorgte das #Wirsindmehr-Konzert aufgrund des Auftritts der Band Feine Sahne Fischfilet, die zeitweilig vom Verfassungsschutz Mecklenburg-Vorpommerns beobachtet wurde. Ähnlich war es im vergangenen Jahr im Vorfeld des Horber Mini-Rock-Festivals, bei dem Feine Sahne Fischfilet ebenfalls dabei war. Festival-Sprecher Benjamin Breitmaier erlebte beim #Wirsindmehr-Konzert, das er im Livestream angeschaut hatte, also sozusagen ein Déjà-vu – und das nicht nur wegen Feine Fahne Fischfilet. "Man muss sich vorstellen: Ganze sechs der Künstler, die dort gespielt haben, waren auch in Horb auf der Bühne", sagt Breitmaier mit etwas Wehmut und meint mit Blick auf die in diesem Jahr zu Ende gegangene Horber Festival-Reihe: "Das zeigt im Nachhinein, dass wir mit dem Mini-Rock-Festival über Musik hinaus genau das Richtige getan haben, indem wir uns nicht aus politischen Debatten heraushielten, sondern klar für Vielfalt und Toleranz, gegen Hass und Ausgrenzung eingestanden sind." Klar ist für Breitmaier daher: "Ich fand es überwältigend, dass so viele Leute auf die Straße gegangen sind, gegen Rassismus und Intoleranz. Das gibt wieder Hoffnung, wenn man jeden Tag das Geschrei der Rechten um die Ohren geballert bekommt. Dass #wirsindmehr weitergehen muss, steht für mich fest. Was das in Horb sein könnte, weiß ich noch nicht. Wenn in Horb etwas sein wird, werden wir Mini-Rocker auf jeden Fall dabei sein."

Rolf Wiechert

Nicht nur die ehemaligen Mini-Rocker könnten sich vorstellen, den #Wirsindmehr-Gedanken nach Horb zu tragen, sondern auch der Chor Vocalmania aus Isenburg. "Den Slogan kann ich mir auch als Konzertaufhänger für Vocalmania vorstellen", sagt Chorleiter Rolf Wiechert und betont: "Ich bin einfach 100 Prozent überzeugt davon, dass es Mehrheiten in dieser Welt sind, welche darüber befinden, wie sich ein friedliches und menschwürdiges Leben gestaltet. Die Randgruppen treten zwar intensiv, aber immer ohne Nachhaltigkeit in Erscheinung, was zwar kurzfristig für Angst und Unsicherheit sorgt, aber die Humanität in ihren Grundsätzen niemals gefährden kann."

Viviana Weschenmoser

"Beinahe wäre ich nach Chemnitz gefahren, aber im letzten Moment hat die Vernunft gesiegt", lacht die Horber SPD-Stadträtin Viviana Weschenmoser, die mitten im Prüfungsstress für ihr Staatsexamen steckt. Dennoch hat sie sich gemeinsam mit Freunden das #Wirsindmehr-Konzert im Livestream angeschaut. Gemeinsam mit Stefan Dreher von der Linkspartei organisierte Weschenmoser vor drei Jahren ebenfalls eine Veranstaltung mit Musik, als die AfD in Horb ihren Parteitag abhielt. "Das war genau das Richtige", erinnert sich die SPD-Stadträtin und findet: "#Wirsindmehr beschreibt sehr gut, was wir viel häufiger machen müssen. Wir müssen die Stimme erheben. Wie bei wirklich allem ist der Schlüssel die Kommunikation." Allerdings verweist Weschenmoser auch darauf, dass es in Horb bereits Projekte gebe, die den #Wirsindmehr-Gedanken in sich tragen – zum Beispiel das Fest der Kulturen der Weltbürger, das an diesem Wochenende wieder stattfindet, und der Jüdische Betsaal mit seinen vielen Erinnerungen an die Verbrechen des Nationalsozialismus. "Das sind Initiativen, die zeigen, dass wir Vielfalt wollen", meint die Sozialdemokratin und bekräftigt: "In Horb zeigt sich immer wieder das gute Zusammenleben. Natürlich gibt es auch bei uns Idioten. Gegen die müssen wir uns immer wieder wehren."

Ferdinand Truffner

Während die CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer aufgrund des Feine-Sahne-Fischfilet-Auftritts Kritik am #Wirsindmehr-Konzert übte, gehörte ihr Parteifreund Ferdinand Truffner zu den Personen, die ihr Facebook-Profilbild mit dem #Wirsindmehr-Banner versehen haben. Der Empfinger Bürgermeister erklärt: "Mir ist es wichtig, dass unsere Gesellschaft nicht in Lager geteilt wird und Deutschland ein negatives Bild erhält. Ich habe zwar die Nazi-Zeit nur aus den Geschichtsbüchern erlernt, aber eine solche Zeit möchte ich für mich und auch für meinen Sohn nicht mehr haben."