Noch viel zu besprechen: die Altbäuerin Ulrike Hasenmaier-Reimer und ihre Nachfolgerin Judith Boulos. Foto: Verena Müller

Es kommt selten vor, dass ein Hof abseits der Familie übergeben wird. Die Gaildorferin Ulrike Hasenmaier-Reimer hat ihre Nachfolgerin in der Online-Börse „Hof sucht Bauer“ gefunden.

Noch liegt etwas Nacht über den Feldern von Gaildorf. Der Nebel zieht sich hinter die Äcker zurück, als Ulrike Hasenmaier Reimer vor dem Schafstall stehen bleibt. Früher hätte sie die Plane beiseite geschoben, hätte den schweren Geruch von Wolle und Mist eingeatmet und nach den Schafen gesehen. Heute schaut sie bloß zu, wie eine junge Frau den Böcken das Kraftfutter in den Trog kippt. Ulrike Hasenmaier-Reimer nimmt Abschied, ganz langsam.

 

Die 65-Jährige will das Leben als Bäuerin hinter sich lassen, sie ist müde geworden. Als sie vor 40 Jahren den Hof südlich von Schwäbisch Hall übernahm, gab es in Deutschland mehr als 700 000 landwirtschaftliche Betriebe. Heute sind es gerade noch ein Drittel so viel. Besonders die kleinen Nebenerwerbsbetriebe wie der Biolandhof in Gaildorf können oft nicht erhalten werden. Ackerbau und Viehzucht tragen nicht mehr – oder es gibt keine Nachfolger.

Die Online-Börse „Hof sucht Bauer“

Über Jahrhunderte übernahm traditionell der Erstgeborene den Hof. Aber wenn der Erstgeborene heutzutage lieber Informatiker werden will, wird er eben Informatiker. Einige Bauern und Bäuerinnen haben keine Kinder, an die sie vererben könnten. Dass Höfe außerhalb der Familie weitergegeben werden, ist unüblich. Wie oft das vorkommt, wird bei Agrarstrukturerhebungen nicht erfasst. Schätzungen sprechen von zwei bis sechs Prozent aller Hofübergaben.

Zu diesen seltenen Ausnahmen gehört der Betrieb von Ulrike Hasenmaier-Reimer. Sie selbst ist kinderlos, ihre Nachfolge hat sie über die Online-Börse „Hof sucht Bauer“ gefunden. Denn es gibt junge Menschen, die keine Landwirtskinder sind, aber in die praktische Landwirtschaft gehen wollen – so wie Judith Boulos. Die 28-Jährige hat Ökolandbau studiert und will gemeinsam mit drei anderen jungen Bauern den Biolandhof in Gaildorf übernehmen. Sie pachten den Hof und werden ihn in ein paar Jahren kaufen. Wenn alles gut geht.

Wie nimmt man Abschied?

Bei Hofübergaben geht es nie nur um Grund und Boden. Es geht um die ganz großen Fragen, um Freiheit und Anerkennung, um Erbe und Altersversorgung. Werden Höfe außerhalb der Familie übergeben, verhandelt man diese Fragen meist mit Menschen, die man gerade erst kennenlernt. Das erfordert Mut. Hasenmaier-Reimer gibt nicht nur die 26 Hektar Grünland und Ackerfläche in Gaildorf weiter, das Bauernhaus mit den knarzenden Dielen, den Stall und die Schafe darin. Hasenmaier-Reimer gibt ihr Leben weiter, so scheint es. „Mein ganzes Ich ist in diesen Hof geflossen“, sagt sie. Wie nimmt man davon Abschied – und überlässt es der nächsten Generation?

Es scheint ewig her, aber auch Ulrike Hasenmaier-Reimer war mal die Neue hier in Gaildorf. Mit 26 Jahren übernahm sie mit ihrem Mann den Betrieb eines kinderlosen Bauernpaares. Sie stellte um auf Bio, tauschte die Herbizidspritze gegen einen Striegel, der das Unkraut mit metallenen Zähnen aus dem Acker zieht. Ein Nachbar sagte: Ihr werdet noch im Unkraut untergehen.

Sie wohnt jetzt im Ausdinghaus

Sie schafften wieder Vieh an, Kälber und Färsen, Hühner und Puten. 15 Jahre arbeiteten sie zu zweit. Dann fing ihr Mann einen Vollzeitjob in Stuttgart an und sie musste immer mehr allein schaffen. Die Rinder wichen schließlich einer Schafherde: Lämmer lassen sich leichter zum Schlachter fahren als Jungbullen. Als zusätzliche Arbeitskräfte züchtete sie sich Border Collies heran, die Hütehunde wurden ihre dritte Hand.

Der Hof überdauerte die Sprüche des Nachbarn, Ulrike Hasenmaier-Reimer erzählt davon mit Stolz. An diesem Vormittag sitzt sie im „Ausdinghaus“, gebaut für weichende Altbauern. Kleiner als das Bauernhaus, keine 30 Meter entfernt, mit Blick auf den Schafstall. An Weihnachten sind sie und ihr Mann hier eingezogen, um „den Jungen“ Platz zu machen, so nennt sie die vier Nachfolger. Sich selbst nennt sie „Vollblutlandwirtin“, trägt ein goldenes Schaf am Ohrläppchen und Pflaster an den Fingerkuppen, die Jahre auf dem Hof haben sich in sie eingeschrieben.

„Meine Knochen sind abgearbeitet“

Das ewige Bücken und Hocken auf dem Feld. In den Knien fing der Schmerz an, heute kann sie mit ihrer Arthrose in der Hand keine Klauen mehr schneiden, keine Zäune mehr stecken. „Meine Knochen sind abgearbeitet“, sagt sie. Hofübergabe heißt für Hasenmaier-Reimer auch: Endlich die Meniskus-OP machen, Jahre zu spät, und sich danach ausruhen dürfen, ohne dass die Tiere hungrig bleiben. Bestimmt hundert Bewerbungen habe sie für die Hofnachfolge bekommen, sagt sie. Aber kaum jemand wusste, was das heißt: Bäuerin sein, 365 Tage im Jahr.

Und dann kam Judith Boulos. Mit der konnte Ulrike Hasenmaier-Reimer es sich gleich vorstellen, erzählt sie. Boulos war klar, dass Landleben mehr ist als Siloballen aufzuschneiden, Frühkartoffeln auszusäen und zu lernen, wie man den verdammten Schlepper mit Anhänger lenkt. Sie wusste: Wer heute Bäuerin sein will, muss auch hektargebundene Ökoförderung beantragen, den Vertrag mit der Biokontrollstelle schließen, sich die EU-Bio-Richtlinien draufschaffen plus die strengeren Richtlinien von Bioland.

„Wenn die Vier sich in die Wolle kriegen, steht der Hof auf der Kippe“

Judith Boulos, die ausgebildete und studierte Landwirtin, führt den Hof jetzt gemeinsam mit ihrem Mann, ihrem Bruder und dessen Freundin. Drei von ihnen haben Ökolandbau studiert – und nur eine von ihnen kommt selbst von einem Hof. Ihr Plan von moderner Landwirtschaft: Im Kollektiv wirtschaften, nebenbei andere Jobs machen und sich so abwechseln, dass auch mal ein Wochenende in Berlin drin ist. Oder eine Zugfahrt nach Spanien. Ulrike Hasenmaier-Reimer sagt trocken: „Wenn die Vier sich in die Wolle kriegen, steht der ganze Hof auf der Kippe.“ Ob sie Angst davor habe, dass sich hier alles verändern wird? Sie schweigt. Dann sagt sie: „Angst habe ich nicht.“


Solche außerfamiliären Hofübergaben können eine Lösung für das große Hofsterben sein, sagt Christian Vieth. Der Agrarökonom gründete die Online-Börse „Hof sucht Bauer“, über die Ulrike Hasenmaier-Reimer auch ihre Nachfolgerin gefunden hat. Er sagt: An landwirtschaftlichen Hochschulen gebe es zahlreiche Studierende, die mal keinen Hof erben, aber trotzdem Landwirt sein wollen. Politisch brauche es mehr Unterstützung, vor allem durch Niederlassungsbeihilfen für Existenzgründer. Es dauere oft Jahre, bis eine Übergabe vollzogen sei – Jahre voll finanzieller Unsicherheit. Solche Förderungen von Junglandwirten gibt es seit 2023 etwa in Sachsen-Anhalt und Brandenburg.

Vor allem, sagt Christian Vieth, brauche es aber Beratungsangebote, finanziert etwa von den Landwirtschaftsministerien. Momentan kämen nur wenige Bauern auf die Idee, außerhalb ihrer Familie zu übergeben. Und wenn, benötigen sie häufig Rat: Nicht nur, wenn es um Bürokratie gehe, sondern vor allem bei den sozialen Fragen.

Wer einen Hof übergibt, kann pleitegehen oder sich zerstreiten, und dann steht man da mit dem Vieh und der Verantwortung. Deswegen gibt es schon jetzt Menschen wie Matthias Becker. Für den Anbauverband Bioland begleitet er Hofübergaben, auch die in Gaildorf. Zum ersten Termin mit zwei Generationen hat Becker immer ein White-Board dabei, auf dem eine strahlende Sonne abgebildet ist, Regenwolken und Blitze. Wie ist das Wetter heute in euch drin, fragt er dann. Oft fängt jemand an zu weinen.

Ulrike Hasenmaier-Reimer bereitete sich fünf Jahre auf die Übergabe vor. Sie bekam nicht nur Besuch von Matthias Becker, sondern besuchte Seminare, sprach über Steuern, Altersvorsorge und „Loslassen, ohne in ein Loch zu stürzen“. Sie lernte: Man muss sich beschäftigen. Den Garten vor dem Ausdinghaus endlich neu anlegen, der sei ja schon lange vernachlässigt. Oder wegfahren, egal wohin. Sie kenne Deutschland ja kaum, war seit 40 Jahren fast nur auf dem Hof.

„Eine Hofübergabe ist zu 90 Prozent ein sehr, sehr emotionaler Prozess“

„Eine Hofübergabe ist zu 90 Prozent ein sehr, sehr emotionaler Prozess“, sagt Matthias Becker. Für ihn sei dieser Prozess erst abgeschlossen, wenn der notarielle Übergabevertrag unterzeichnet ist – und alle um einen Tisch sitzen und sagen: Das ist gut so. Bis der Hof in Gaildorf wirklich der neuen Generation gehört, wird es noch einige Jahre dauern. Seit diesem Februar hat er aber schon einen neuen Namen: Biohof GutSo.

Zum Biohof GutSo gehört nun auch ein Hütehund. Ulrike Hasenmaier-Reimer hat ihren ältesten Border Collie an Judith Boulos weitergegeben. In seinem Zwinger steht eine Plastikkiste voller Pokale, unter dem dicken Staub glänzt goldenes Metall. Der Hütehund hört schon auf Boulos‘ Kommandos: Ein Ruf und er duckt sich ins Gras, treibt die Schafe vor sich her, zwischen Apfelbäumen hindurch zu ihrer Futterraufe. Nur wenn Ulrike Hasenmaier-Reimer mit auf die Weide kommt, dreht er sich noch manchmal zu ihr um, als wolle er fragen: Soll ich wirklich machen, was die Neue mir sagt?

Die Jungen müssen ihre eigenen Fehler machen

Ulrike Hasenmaier-Reimer kennt ihre Tiere. Sie schaut einem Schaf ins Gesicht und weiß: Dem geht’s nicht gut. Neulich, erzählt sie, hing bei einem das Ohr, richtig wiederkäuen wollte es auch nicht. „Die Jungen sehen das noch nicht“, sagt sie. Aber sie will ihnen nicht zu viel reinreden. Auch ihr sei mal ein Acker Sommergerste verunkrautet, „die müssen ihre eigenen Fehler machen“.

Dabei wollen sie alles von ihr wissen, „die Jungen“, den ganzen Tag geht das so. Wie schneidet man den wintergrünen Farn vor dem Haus? Ulrike fragen! Wie heißt der Vogel, der in dem Totholz der Apfelbäume nistet? Ulrike fragen! Im Familienkalender an der Küchenwand hat Judith Boulos ein Wochenende markiert: „Ulrike weg!“. Als Ulrike das kranke Schaf bemerkte, rief Boulos gleich die Tierärztin.

Vor zehn Jahren dachte Ulrike Hasenmaier-Reimer noch, sie werde niemals dabei zuschauen können, wie jemand anderes ihren Hof weiterführt – da ziehe sie doch lieber gleich weit weg. Aber es ist ganz anders gekommen: Jetzt bespricht sie jeden Montag nach dem Frühstück mit den jungen Landwirtinnen und Landwirten, was gerade ansteht.

Das Loslassen bleibt schwer

Oft seien Übergaben außerhalb der Familie sogar leichter, sagt der Agrarökonom Christian Vieth. Man kann es sich vorstellen: weniger Erwartungen, die seit Jahrzehnten auf den eigenen Kindern lasten, weniger eingespielte Familiendynamiken. Doch das Loslassen bleibt schwer. Sich so ganz rauszuziehen, das schafft Ulrike Hasenmaier-Reimer bislang noch nicht. „Es sind irgendwie immer noch meine Schafe“, sagt sie.

Auf den Äckern in Gaildorf wachsen Zwiebeln und Rote Beete, ganz ohne Herbizide. Ein Nummernschild aus Schwäbisch Hall hat Judith Boulos schon: SHA-FE steht auf dem Kennzeichen des Mercedes, der in der Garage steht. Im Hofladen gibt es wieder Lammfleisch – nicht als Braten, junge Leute kaufen eher Burger. Ulrike Hasenmaier-Reimer sagt: „Wer will, dass alles bleibt, wie es ist, findet niemals Nachfolger.“