NRW-Innenminister Reul war der Talkrunde am Sonntag – aus aktuellem Anlass – zugeschaltet. Foto: NDR/Claudius Pflug/Claudius Pflug

Nach Solingen verlangt NRW-Innenminister Reul (CDU) in der ARD Verbesserungen für die Polizei und kritisiert das Halten von Sonntagsreden durch Politikerkollegen. Ob er damit CDU-Chef Merz meint, bleibt offen.

Wie ist einem Täter mit einem solchen Profil nur beizukommen, wie ist eine solche Tat vorzubeugen? Der ARD-Talk von Caren Miosga am Sonntagabend stand ganz im Banne der furchtbaren Bluttat von Solingen, bei der ein mutmaßlicher Islamist im Alter von 26 Jahren unvermittelt drei Menschen erstochen hat.

 

Der Mann hätte ausreisen müssen, aber er war nicht „untergetaucht“, wie es in den Medien geheißen hatte, sondern er sei bei einer geplanten Abschiebung nicht anwesend gewesen, später sei er ja wieder in der Unterkunft aufgetaucht. Auf diesen Umstand wies der in der Sendung doch sehr pragmatisch und besonnen wirkende zuständige NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) hin.

Reul betonte auch, dass der mutmaßliche Täter zuvor keine Straftaten begangen habe – und er schilderte sein Entsetzen und die Überraschung über die Tat. Man sei ja erleichtert gewesen, dass die Fußball-EM und Olympia friedlich verlaufen seien. Wer nicht geträumt habe, der habe aber schon lange gewusst, dass der islamistische Terror „wieder unterwegs“ sei, aber wie und wo es dann passierte: „Das haut einen um.“

Nachjustieren bei Abschiebung

Zumindest bei den Abschiebungsregeln, für die das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zuständig sei, müsse man prüfen ob die richtig seien, meinte Reul – aus seiner Sicht lohne es sich, die Abläufe anzuschauen. „Möglich, dass da nachjustiert werden muss. Aber das kann man nicht aus der Hüfte schießen und auch nicht im Fernsehen machen.“

Andere Studiogäste stimmten der Analyse des Landesministers zu: Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken meinte, dass es fast unmöglich sei, einen solch „brutalen und feigen Anschlag“ abzuwenden. Es gebe keine 100-prozentige Sicherheit, dass sei zwar eine „schmerzhafte“ Erkenntnis, aber es sei ja gerade das Kalkül der Terroristen, die sich gegen unsere freie und weltoffene Gesellschaft richteten.

Der ARD-Terrorexperte Michael Götschenberg nannte es eine Absicht der IS-Terroristen zu demonstrieren, dass es jeden überall treffen könne. Die Rechnung sei daher für den sogenannten Islamischen Staat (IS) aufgegangen. Nachdem der IS und das Kalifat von der Landkarte verschwunden sei, habe man das Gefühl gehabt, die Terrorbewegung sei orientierungslos geworden, so Götschenberg. Mit dem Wiederaufflammen des Nahost-Konflikts gelinge es ihm aber wieder leichter, Kämpfer für sich zu mobilisieren.

Anschläge oder Anschlagsversuche hätten zugenommen, da gebe es den IS, Al-Kaida und den IS-Provinz-Khorasan (ISPK) in Afghanistan, der für den blutigen Anschlag bei Moskau mit 130 Toten verantwortlich zeichne. Bei Großveranstaltungen wie Olympia und EM hätten die strengen Sicherheitsvorkehrungen bis hin zu Rucksackkontrollen im übrigen gut gewirkt. Aber ist das ein Maßstab für unseren Alltag? Für jedes kleine Dorf und Weinfest? Diesen Aspekt der Debatte folgte die Studiorunde nicht, sie ging eher auf die vollmundigen Forderungen von Politikern nach Solingen ein – und zwar kritisch.

Polizei braucht frühe Infos

„Ich bin die Quatscherei so satt. Man müsste, sollte, könnte!“ meinte Innenminister Reul. Statt Sonntagsreden zu halten und immer neue Vorschläge zu machen, sollte man lieber real „drei kleine Sachen machen“ und die Arbeit der Polizei so verbessern. Man müsse die Ausstattung der Polizei ebenso wie die eminent wichtige „frühe Informationsgewinnung“ über mögliche Taten verbessern und die Zusammenarbeit von Verfassungsschutz und Polizei stärken.

„Mit den rechtlichen Möglichkeiten, im Vorfeld einer Tat Informationen zu erhalten, da tun wir uns in Deutschland irrsinnig schwer“, so Reul. Er wies daraufhin, dass auch kleine rechtliche Veränderungen – etwa beim Versammlungsgesetz, gegen die viele Politiker Sturm gelaufen seien – der Polizei in NRW stark geholfen habe, beispielsweise das Ausrufen des Kalifats auf islamischen Demonstrationen zu stoppen. Teile der politischen Parteien „blockierten“ aber alles, was der Polizei weiterhelfe, so der Christdemokrat.

Auslandsdienste wissen mehr

Jochen Kopelke, Bundesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei, stieß ins gleiche Horn: Bei Einzeltätern, die sich in der Anonymität der Gesellschaft radikalisierten, da sei es für die Polizei sehr wichtig auch Alltägliches zu erfahren – dabei gehe es beispielsweise auch um Einkäufe oder Bestellungen. „Bei Hinweisen dazu sind die Auslandsdienste viel schneller als unsere.“ Wie könne das denn sein, dass alle um Deutschland herum etwas wüssten und man selbst es nicht von den eigenen Diensten erfahre. Der Datenschutz sei extrem hierzulande, meinte Kopelke. Im übrigen frage er sich, warum die Innenminister der Länder sich nicht auch einmal in die Flüchtlingsunterkünfte begeben würden, dort nach den sozialen Strukturen schauten und eine Präventionsoffensive starteten. Dort seien schließlich Tausende „eingepfercht“, die Zustände dementsprechend.

Zum Vorschlag von Bayerns Ministerpräsident Markus Söder, die Grenzkontrollen durch die Polizei massiv auszuweiten, äußerte sich der Gewerkschafter skeptisch: Die Polizei habe ein Ressourcenproblem, wolle man mehr Grenzkontrollen, erzeuge das eine Wechselwirkung und reiße anderswo Lücken auf, die Polizeipräsenz in den Städten werde dann sinken.

Von Caren Miosga gefragt, was er vom Aufnahmestopp für alle Syrer und Afghanen halte, den CDU-Chef Friedrich Merz vorgeschlagen hatte, äußerte sich dessen Parteifreund Reul ausweichend: Das könne er rechtlich nicht abschließend bewerten, meinte der Landesminister.

80 Millionen „auf die Finger“ schauen?

Bei der SPD-Chefin Esken schrillten aber spätestens da die Alarmglocken: Die Vorschläge von Merz, Menschen aus Syrien oder Afghanistan, von denen viele gerade vor dem radikalen Islamismus auf der Flucht seien, von der Einreise abzuhalten, sei mit dem Grundgesetz sowie der UN-Flüchtlingskonvention gar nicht machbar. Auch die Rufe nach stärker Überwachung und einer engen Kooperation von Polizei und Verfassungsschutz lösten bei Esken Unbehagen aus: für die Trennung von Polizei und Geheimdienst gebe es wegen der Erfahrung in der Nazi- und DDR-Zeit gute Gründe.

Die Forderungen danach, mehr Informationen zu sammeln, sieht Esken auch kritisch: Man könne nicht 80 Millionen Deutsche unter „Dauerbeobachtung“ stellen und „jedem auf die Finger gucken“ – man werde die Freiheitsrechte nicht aufgeben. Auch Esken wiederholte in dem Zusammenhang den Hinweis, dass der Täter von Solingen „nicht polizeibekannt“ gewesen sei.

Die Anteilnahme in Solingen ist nach dem Attentat groß. Foto: dpa/epd/Meike Böschemeyer

Ein Tabu unter Muslimen

„Er sieht aus wie der Taxifahrer, der Paketbote, der Professor oder der Mitschüler von nebenan“, meinte die Publizistin Sineb El-Masrar. Die Mehrheit der „Muslim Community“ in Deutschland sei „sehr betroffen“ über den Anschlag, sie fordere stärkere Maßnahmen gegen den islamischen Extremismus. Gleichzeitig gebe es die „Schizophrenie“, dass viele Muslime der Ansicht seien, dass der Islamismus gar nichts mit Religion zu tun habe. Eine notwendige Debatte über die strenge Auslegung des Korans finde nicht statt, sei ein Tabu in den Familien.

Deutschland habe im übrigen nicht nur einen großen Migrations-, sondern auch einen Frustrationshintergrund, meinte El-Masrar. In der Corona- aber auch in der Flüchtlingsdebatte sei es nicht gelungen, sachlich und neutral zu diskutieren, das gefährde den Zusammenhalt. Die „klugen Köpfe“ des Landes sollten mal parteiübergreifend erörtern: „Wie kriegen wird die geo- und innenpolitischen Konflikte gelöst, damit uns die Gesellschaft nicht um die Ohren fliegt.“