„Die Freiheit ist komplett weg“, sagt Lutz Schelhorn (vorne): Foto: Farbfilm

Lutz Schelhorn , Präsident der Hells Angels Stuttgart, lebt seinen Traum als Mitglied der Motorrad-Gruppe Hells Angels und ist derzeit im Dokumentarfilm „Ein Hells Angels unter Brüdern“ im Kino zu sehen. Die Biker machen Schlagzeilen, sind vielen Bürgern suspekt. Was steckt wirklich hinter der Subkultur?  

Stuttgart – Lutz Schelhorn lebt seinen Traum als Mitglied der Motorrad-Gruppe Hells Angels. Die macht öfter Schlagzeilen, ist vielen Bürgern suspekt. Was steckt wirklich hinter der Subkultur, der sich aktuell ein Dokumentarfilm widmet? -
Herr Schelhorn, sind Sie ein Rocker?
Früher war das für uns ein Schimpfwort, die Amis kennen das gar nicht. Wir nennen uns Biker. Und die Weste mit Club-Abzeichen heißt nicht Kutte, sondern Patch. Inzwischen gebrauche ich diese Worte aber auch, weil sie den Leuten geläufig sind.
Wieso sind Sie Biker geworden?
Ich habe Freiheit gesucht. Meine Jungs und ich sind Motorrad gefahren, damals noch ohne Helm. Wir haben nur so viel gearbeitet, wie wir mussten, und gemacht, was wir wollten, in einer Gruppe, in der sich jeder auf den andern verlassen konnte. Das ist wie eine Großfamilie. Für mich ist Zusammenhalt unheimlich wichtig, auch in der Familie.
Ihr Bildband über die Angels trägt den Titel „Die letzten Krieger“ – wieso?
Da spiele ich mit Klischees. Aber wir nehmen eben nach wie vor nicht alles hin, ich bin immer noch ein Rebell. Man kann nur frei leben, wenn man sich nicht duckmäuserisch anpasst.
Wie frei fühlen Sie sich heute?
Die Freiheit ist komplett weg. Nicht nur bei uns im Club, weil wir besonders beobachtet und ständig kontrolliert werden. Die ganze Gesellschaft ist viel unfreier. Nach jedem Terroranschlag wird die Freiheit scheibchenweise weiter demontiert, nun durch die geplante Vorratsdatenspeicherung.
Torpedieren kriminelle Aktivitäten von Hells Angels in anderen Städten die Freiheit?
Was in anderen Chartern passiert, kann ich schwer beurteilen. Wir tragen dasselbe Club-Abzeichen, sind aber ein Haufen Individuen. Es gab es immer eine gewisse Nähe zum Milieu und unerfreuliche Vorfälle, die nicht im Sinne des Clubs sind, aber häufig stellen sich extreme Vorwürfe als haltlos heraus. Und jeder weiß: Wer gegen Recht verstößt, muss es ausbaden. So funktioniert der Rechtsstaat.
Bei den Angels kamen aber doch einige unschöne Schlagzeilen zustande.
In einem Strategiepapier von 2010 wird auf 60 Seiten beschrieben, wie unsere Subkultur systematisch plattgemacht werden soll. Alle staatlichen Organisationen sollen mithelfen, Ordnungsämter, Feuerwehr, technische Hilfswerke. Über die Medien sind Unwahrheiten lanciert worden, die sich übers Netz fortgepflanzt haben. Aktuell schrieb die „BZ“, der Film sei gewaltverherrlichend, und hat dann festgestellt, dass er ab zwölf ist. Da hatten es andere Blätter aber schon übernommen.
Es hat Verurteilungen und Verbote gegeben.
Eskaliert ist das erst in den letzten fünf Jahren. Da kamen Leute dazu, die die Ideologie nicht verstehen, nicht einmal Motorrad fahren. Junge Männer ohne Perspektive, die ständig suggeriert bekommen: Du brauchst das neue Smartphone, den tiefergelegten BMW. Das geht schlecht mit Hartz IV. Und dann lesen sie in der Zeitung: Bei den Rockern werden Millionen verdient. Die Clubs, die solche Leute wahllos genommen haben, bereuen das sehr. Die wiederum haben gemerkt: Mit Club-Abzeichen wird man sofort einkassiert. Die Angels galten immer als integer, ein Mann, ein Wort. Da geht gerade viel den Bach runter.
Sie dürfen Ihre Westen derzeit nicht tragen.
Das Landgericht Bochum hat vor kurzem den Begriff Sippenhaft gebraucht. Es hat festgestellt, dass nicht allen Bandidos das Tragen der Jacke verboten werden dürfe, nur weil einige Charter verboten sind. Ich hoffe, diese Sicht der Dinge setzt sich durch.
In Stuttgart ist seit Jahrzehnten nichts vorgefallen – was ist hier anders?
Als wir 1981 gerade Hells Angels geworden waren, saßen wir im Exil am Marienplatz. Das war unsere Kneipe, Punks und wir. Da kam Willy Pietsch und sagte: Ich bin Dezernatsleiter und für euch zuständig. Ich dachte: Was will der Bulle hier? Dann habe ich ihn als sehr integren Polizisten kennengelernt. Der hat uns nie angelogen, selbst als es Anklagen gab und andere Dezernate erwiesenermaßen Akten gefälscht haben. Genauso habe ich ihn nie angelogen. Das hat mit Respekt und Anstand zu tun. Wenn wir über etwas nicht reden konnten, haben wir geschwiegen. Beim 30-Jährigen 2011 waren 1200 Angels in der Stadt, auf der Königstraße, dem Weihnachtsmarkt. Die Polizei hatte Kräfte im Hintergrund, aber man hat sie nicht gesehen. Wir haben gefeiert, es gab keinen Ärger, keine Kontrollen, keine Schikane.
Prägend fürs Image war das Konzert der Rolling Stones 1969 in Altamont: Die Angels waren als Ordner engagiert, einer hat den Besucher Meredith Hunter erstochen.
Das ist ein Sonderfall. Die Stimmung war aufgeheizt, einer zieht eine Wumme, leider zufällig ein Schwarzer, und ein Hells Angel greift ein. So schrecklich das ist: Wer weiß, auf wen der geschossen hätte? Seitdem hängt den Angels der Ruf an, sie seien Rassisten und Gewalttäter und hätten die Hippie-Bewegung kaputt gemacht. Der Betreffende wurde des Mordes angeklagt und freigesprochen – Notwehr. Die Angels hat er verlassen. Für mich war das weder ein typisches Angels-Ding noch ein rassistisches Ding, sondern eine Verkettung unglücklicher Umstände.

"Leider baut Harley nur noch Motorräder für Zahnärzte und Rechtsanwälte"

Welches Verhältnis hat der Club zur Gewalt?
Wir sind kein Kirchenchor, Gewalt gab es in der Szene immer, hin und wieder auch einen Toten, und da ist natürlich jeder einer zu viel. In Stuttgart gibt es selten mal eine Handgreiflichkeit, auf dem Volksfest dagegen jedes Jahr Hunderte Strafanzeigen, weil Besoffene sich schlagen. Häusliche Gewalt ist weit verbreitet, bei uns gibt es sie nicht, keiner von uns prügelt Frau und Kinder. Das könnte auch keiner verheimlichen, weil wir eine so enge Gemeinschaft sind.
Wann wussten Sie, dass Sie ein Biker sind?
In Stammheim gab es ein kleines Kino, da waren wir mit unseren Mofas jede Woche. „Hells Angels ’69“ hat mich unheimlich fasziniert, weil die Typen so echt waren – die Motorräder, diese Wildheit. 1998 war ich zum 50-Jahr-Jubiläum in den USA und bin neben Angels-Urgestein Sonny Barger über die Oakland Bay Bridge gefahren, da hat sich für mich der Kreis geschlossen. Da kriege ich heute noch Gänsehaut: Den Mann hatte ich im Kino gesehen, als ich meine Entscheidung traf!
Sie waren nach Hamburg das zweite Charter in Deutschland – was ist dran an den Gerüchten über harte Aufnahmeprüfungen?
Ja, diese Mythen, man müsste jemanden umbringen – blanker Unsinn! Wo sind denn die Opfer, wo die Täter? Da wäre doch mal einer erwischt worden! Nein, es geht es nur um eins: intensiv Zeit miteinander zu verbringen, um festzustellen, ob es passt. Wir mussten oft nach Hamburg fahren mit den alten Starrrahmen-Kisten ohne Federung. Freitags nach dem Schaffen – wenn man geschafft hat – hoch, durchgesoffen und sonntags vom Fischmarkt wieder auf den Ofen und zurück.
Muss es eine Harley sein?
Unsere Regeln sagen nur: Viertakt-Zweizylinder mit mindestens 500 ccm. Üblich ist eine Harley. Leider baut Harley-Davidson keine Motorräder mehr für uns, sondern für Zahnärzte und Rechtsanwälte. Die Maschinen sind kastriert, da ist nicht mehr das ursprüngliche Leben drin, die ölen und klappern nicht mehr. Absolut zuverlässig, aber todlangweilig.
Schrauben Sie noch selbst?
Ich habe gerade meinem Sohn, der jetzt auch im Club ist, in seine 89er einen Motor eingebaut. Für mich selbst habe ich eine 85er komplett neu aufgebaut. Man muss wissen, wie man restauriert, wo Tücken lauern, wie die Amis alles kaputt machen können. Darüber mache ich ein Buch. Für die Stadt habe ich eine 83er-Sportster, das sind noch die richtig urigen Motoren. Die ist sehr schmal und passt zwischen den Autos durch.
Im Film geben sich die anderen Angels eher zugeknöpft.
Eigentlich geht das die Leute alles gar nichts an; bei dem falschen Bild von uns gibt es aber keine andere Möglichkeit, als aufzuklären. Wenn eine Kamera eindringt in unsere Privatsphäre – da war anfangs immer die Stimmung weg. Obwohl wir Marcel Wehn vertrauten. Das Problem war: Als er angefangen hat, war das Thema noch nicht hochgekocht, danach sollte dann aus einem Film über mich auf einmal ein Film über den Club werden.
Rocker gelten als eher unpolitisch, Sie haben unter dem Titel „Chemie der Erinnerung“ das Holocaust-Mahnmal am Nordbahnhof fotografisch dokumentiert.
Der Holocaust hat mich immer beschäftigt. Dann habe ich gelesen, dass in Stuttgart der Ort noch existiert, von dem aus die Leute deportiert wurden, die Gleise, die Rampe, die Prellböcke. Das wollte ich festhalten über die Jahreszeiten hinweg. Vorher war das Thema weit weg, jetzt ist es mir ganz nah.
Wann wussten Sie, dass Sie Fotograf sind?
Geknipst habe ich immer. Der Ausgangspunkt war dann ein Buch über Stuttgart. Ich wollte zeigen, dass das eine normale Stadt ist, weil gerade unsere Hamburger Brüder uns immer gehänselt haben: Bei euch wird ja um zwölf der Gehweg hochgeklappt.
Sie haben auch „Stuttgarter Hauptbahnhof eins vor 21“ gemacht.
Ich habe von meinem Atelier in der Bahndirektion auf den Bahnhof geschaut, und es hat mir wehgetan. Als ich Kind war, musste man noch ein Zehnerle bezahlen, um auf die Bahnsteige zu dürfen. Ich dachte: Jetzt bringe ich den alten, aussterbenden Saurier Kopfbahnhof zusammen mit dem alten, aussterbenden Saurier analoge Großformatfotografie, die auch keiner mehr braucht, weil heute alles schnell gehen muss.
Sie haben auch schon mit Obdachlosen und Behinderten gearbeitet.
Mich interessieren Menschen, schon immer. Mit geistig Behinderten habe ich tolle Ausstellungen gemacht, das waren die ehrlichsten Menschen, mit denen ich je zusammen war außerhalb meines Clubs. Die haben mir immer ganz genau gesagt und gezeigt, was sie von mir halten. Jetzt arbeite ich an einem Fotografie-Projekt mit Flüchtlingen.