Demenz bedeutet nicht, dass es nichts mehr zu lachen gibt. Doch die Bewältigung des Alltags ist zur größten Herausforderung im Leben von Karl und Irmgard Linskeseder geworden. Foto: Peter-Michael Petsch

Experten rechnen mit einem explosionsartigen Ansteigen der Erkrankung – Helferkreis unterstützt Angehörige.

Stuttgart - „Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem man nicht vertrieben werden kann.“ Für Menschen mit Demenz gelten die Worte des Schriftstellers Jean Paul (1763 bis 1825) nicht. Die Krankheit zerstört die Gehirnzellen und damit die Erinnerung an alles Vergangene. So ist es bei berühmten Patienten wie dem Tübinger Wissenschaftler Walter Jens. So ist es bei dem Stuttgarter Karl Linskeseder. Sie sind aus dem Paradies der Erinnerung Vertriebene.

Karl Linskeseder sitzt am Tisch mit der bunten Decke, isst in Zeitlupentempo eine Viertelscheibe Brot mit Marmelade. „Das schafft er allein. Nur beim Müsli muss ich ihm helfen“, sagt seine Frau Irmgard. Die 67-Jährige ermuntert ihren Mann liebevoll, weiter zu essen. Er antwortet nicht. Manchmal huscht ein Lächeln über sein Gesicht. Dann ist es so, als würde ein Licht angeknipst. Der 73-Jährige kann nicht mehr verständlich sprechen, ist hilflos, ein Pflegefall. Vor zehn Jahren diagnostizierten die Ärzte bei ihm die Alzheimer-Demenz.

Alzheimer ist die häufigste Form der Demenz und betrifft rund zwei Drittel der Erkrankten. „Ab Mitte 60 leidet etwa jeder 20. Deutsche an einer Form der Demenz; bei den über 80-Jährigen ist es jeder Fünfte“, sagt Günther Schwarz. Der Mitarbeiter der Evangelischen Gesellschaft (Eva) Stuttgart leitet den Helferkreis für Demenzkranke. Weil die Menschen immer älter werden, wird es in rund 20 Jahren in Stuttgart 16.000 Demenzkranke geben. Bundesweit wird sich ihre Zahl auf 2,5 Millionen verdoppeln.

„Fürs Rentenalter waren wir voller Pläne“

Nach der Diagnose hat die Welt der Linskeseders zunächst aufgehört sich zu drehen. „Wir sind viel gereist, haben in Südamerika Trekkingtouren und den Wanderweg von Oberstdorf nach Meran bewältigt. Fürs Rentenalter waren wir voller Pläne“, sagt Irmgard Linskeseder. Durch die Erkrankung ihres Mannes ist die Planung und Bewältigung des Alltags zur größten Herausforderung geworden. „Heute Nachmittag muss ich weg. Die ehrenamtliche Betreuerin, die kommen wollte, hat abgesagt. Nun muss ich rumtelefonieren und Ersatz finden“, sagt Irmgard Linskeseder und ist froh, dass sie durch die Eva Helfer für solche Notfälle an der Hand hat. „Meist findet sich jemand, der einspringt“, sagt sie. Alleine lassen kann sie ihren Mann nicht mehr.

Demenz verläuft in drei Phasen. Jede dauert etwa drei bis vier Jahre, mitunter auch länger. „Es beginnt damit, dass Betroffene Namen vergessen oder ihnen bestimmte Wörter nicht mehr einfallen. Das können ganz normale, altersbedingte Aussetzer sein. Wird aber mehrfach am Tag der Schlüsselbund verlegt, könnte das ein Alarmzeichen sein“, weiß Schwarz.

Eine frühe Diagnose ist wichtig

Auch bei Karl Linskeseder, der als Schreiner gearbeitet hat, fing alles harmlos an. „Er hat ab und zu mal einen Auftrag vergessen und unnötige Dinge gemacht“, erinnert sich seine Frau. Als sich die Fehler am Arbeitsplatz häuften, wurde der Betriebsarzt eingeschaltet und hat Demenz festgestellt. Ein Facharzt bestätigte das Gutachten und diagnostizierte Alzheimer.

Obwohl Demenz nicht heilbar und auch nicht zu stoppen ist, sei eine frühe Diagnose wichtig. Es gebe Medikamente, die das Frühstadium verlängern. Außerdem könnten die Angehörigen besser mit Begleiterscheinungen wie zum Beispiel Aggressionen umgehen. „Es entlastet beide Seiten, wenn klar ist, dass ein Verhalten krankheitsbedingt ist“, sagt Schwarz.

In der ersten Phase kann der Alltag noch aufrechterhalten werden. Bereits im zweiten Stadium der Demenz gehen grundlegende Fähigkeiten, wie sich allein waschen oder essen zu können, verloren. Die Betroffenen finden sich nur noch in ihrer gewohnten Umgebung zurecht und sind auf Hilfe angewiesen. Im dritten Stadium entwickeln die Patienten einen enormen Bewegungsdrang. Sie verlieren die Sprache, haben keine Kontrolle über ihre Körperfunktionen und müssen 24 Stunden betreut werden.

„Mittlerweile ist es, als hätte ich ein kleines Kind“

Bei Karl Linskeseder schritt die Krankheit langsam voran. „Sieben Jahre konnten wir mit Einschränkungen gut zusammen leben“, sagt seine Frau. Selten hat sie mit ihrem Mann über die Zukunft gesprochen. „Er wollte es verdrängen“, vermutet sie. Da die 67-Jährige in der Altenpflege tätig war, wusste sie, dass sich Demenz nicht verdrängen lässt. „Mittlerweile ist es, als hätte ich ein kleines Kind. Der Unterschied ist, dass das Kind ins Leben wächst, der Demenzkranke aber – .“ Sie spricht den Satz nicht zu Ende. „Die Patienten werden bettlägerig, irgendwann hören die Körperfunktionen auf und sie sterben“, sagt Günther Schwarz.

Karl Linskeseder ist körperlich noch außergewöhnlich fit. Der Verlust des Sprachvermögens und anderer Grundfähigkeiten liegt etwa drei Jahre zurück. Seine Frau ist seither rund um die Uhr für ihn da. Zweimal in der Woche bringt sie ihn zur Tagespflege. Die beiden Tage braucht die 67-Jährige: für die Hausarbeit, für ihr Ehrenamt in der Kirche und auch für sich selbst – um Atem zu schöpfen und wieder Kraft für ihn zu haben. Da ihr Mann sich nicht mehr mit Worten äußern kann, liest sie an seiner Mimik, den Bewegungen und der Körperhaltung ab, ob er Hunger oder Durst hat, müde ist oder zur Toilette möchte. Oft nimmt sie seine Hand, damit der 73-Jährige seine Frau spüren kann. „Die ist ja kalt“, stellt sie fest, zieht ihm eine Strickjacke an. Dann legt sie eine CD mit alten Schlagern auf, lächelt ihrem Mann zu und fasst ihn um die Taille. Beide bewegen sich im Rhythmus der Musik. „Musik und Berührung sind das Einzige, auf das er reagiert“, sagt Irmgard Linskeseder. Als sie ihn loslässt, dreht sich ihr Mann selig um sich selbst. Er lacht, erst leise, dann lauter, und stößt unverständliche Laute aus. Was er sagen will, ist nicht zu verstehen. Es ist seine eigene Sprache aus einer Welt, in die niemand eindringen kann, auch nicht seine Frau. Sobald die Musik aufhört, geht er wie aufgezogen mit Tippelschritten im Wohnzimmer auf und ab, bis er erschöpft ist, sich irgendwo hinsetzt und seine Frau anblickt. Wer sie ist, weiß er nicht – nur, dass sie ihm viel Zuwendung schenkt.

Die Welt der Linskeseders dreht sich wieder, wenn auch nicht mehr rund

Ob es Glück in Karl Linskeseders Welt gibt? Im Mai wagte das Paar eine Reise in die Toskana – zusammen mit Freunden. „Dort wirkte er so gelöst“, sagt Irmgard Linskeseder und fügt hinzu, dass sie glücklich sei, wenn es ihm gut geht. Die Welt der Linskeseders dreht sich wieder, wenn auch nicht mehr rund. „Und Freude gibt es auch“, meint sie.

Günther Schwarz hält es zwar für einen Glücksfall, wie die Linskeseders die Krankheit meistern. Er ist aber Realist genug, um zu wissen, dass die Pflege zu Hause nicht in jedem Fall die ideale Lösung ist. „Das kann Angehörige überfordern. Häufige Besuche im Pflegeheim, wo die Mitarbeiter auf den Umgang mit Demenzkranken eingestellt sind, hält er mitunter für ratsamer. Die meisten Stuttgarter Heime haben eine Station für schwer demente Bewohner. Ziel ist es jedoch, die Patienten so lang wie möglich auf den anderen Stationen zu integrieren. Genaue Zahlen gibt es nicht. Doch dürften etwa 3000 Demente einen der insgesamt 5400 Plätze in 56 Pflegeheimen in Stuttgart haben. Die übrigen 5000 sind wie Karl Linskeseder zu Hause. Ihren Karl in einem Pflegeheim unterzubringen kommt trotz der enormen Belastung für Irmgard Linskeseder nicht infrage. Die Pflege ihres Mannes gebe auch ihrem Leben Sinn, sagt sie.

Hilfe für Betroffene

Hilfe für Betroffene

Die Fachberatung Demenz und der Helferkreis der Evangelischen Gesellschaft Stuttgart (Eva) unterstützen Angehörige unter anderem bei der Suche nach Betreuern und beraten zu allen Fragen der Erkrankung. Telefonische Informationen gibt unter 07 11 / 20 54 - 374.

Informationen über Demenz gibt es seit kurzem auch vom Netzwerk Demenz im Internet unterwww.demenz-stuttgart.de.

Um pflegenden Angehörigen das Leben zu erleichtern, haben sich jetzt auch das Netzwerk Demenz Stuttgart, das Stuttgarter Netz für pflegende Angehörige und das Palliativ-Netz Stuttgart zusammengetan und einen Online-Veranstaltungskalender entwickelt. Dieser Kalender informiert zum Beispiel über Termine von Entspannungskursen für pflegende Angehörige oder Treffen von Trauergruppen und weist auf Vorträge zu Rechtsfragen und zur Finanzierung der Pflege hin. Der Kalender ist unter www.veranstaltungen-netzwerke.de im Internet zu finden. Außerdem liegt er gedruckt bei den Stadtteilbüros des Bürgerservice Leben im Alter aus. Das zentrale Sekretariat des Bürgerservice Leben im Alter ist unter Telefon 07 11 / 216 - 38 18 zu erreichen.