Sie kann fliegen und singen gleichzeitig: Helene Fischer Foto: Lichtgut - Oliver Willikonsky

Helene Fischer zeigt bei ihrer Dreieinhalb-Stunden-Show in der Stuttgarter Schleyerhalle, was sie kann – und dass sie es kann: eine Show liefern, die ihr Publikum glücklich macht.

Stuttgart - Man mag sich als Berichterstatter vom Konzert Helene Fischers in der Stuttgarter Schleyerhalle gar nicht mit Details beschäftigen. Man hielte sich nur auf damit. Es gibt einfach so viele davon. So viele Einfälle, Verwandlungen, Abwechslungen, Zuspitzungen, Pointen, Kunststücke, Überraschungen, Bilder, Farben, Lichter, Entdeckungen. Es gibt an diesem langen Konzertabend – pünktlich um vier Minuten nach acht steht Fischer auf der Bühne, und sie wird diese erst um kurz nach halb zwölf wieder verlassen, abgesehen natürlich von der Pause – so unglaublich viele Ideen mitzuerleben, dass andere Künstler vermutlich drei Bühnenprogramme damit gefüllt und bestritten hätten. Es ist unmöglich, hier alles nachzuerzählen. Es wäre auch nicht das Wesentliche.

Fassen wir es deshalb nur kurz zusammen: Ja, liebe Leser, es stimmt alles, was über die aktuelle Fischer-Tournee schon zu hören und zu lesen war. Sie singt und tanzt. Sie trägt wieder viele spektakuläre Kleider. Sie hat ihren Abend gemeinsam mit der kanadischen Zirkustruppe Cirque du Soleil gestaltet. Sie zeigt deshalb selbst viel Akrobatik, hängt zwischendurch an Seilen und Trapezstangen, bietet dort wahrlich zirzensische Leistungen. Sie hat zudem großartige Tänzer und Akrobaten um sich, die noch tollere Sachen an Seilen und auf Trapezen veranstalten. Sie singt ihre neuen Lieder und ein paar alte. Sie sagt ungefähr ein Dutzend Mal im Laufe des Abends „Ihr Lieben“ zum Publikum. Sie sieht auch um kurz nach halb zwölf immer noch aus wie gerade aus dem Ei gepellt. Und das Publikum liegt ihr zu Füßen, singt mit, tanzt mit, jubelt, tobt, ist mit der Künstlerin und mit sich eins, schwebt auf Wolke sieben.

Unser Kultur-Chef erzählt im Video, wie das Konzert von Helene Fischer war:

Die Frau kann was. Die Frau will was. Ihre Stimme ist famos. Punktum.

Damit hätten wir zu diesem Konzert alles gesagt – und doch noch nichts Wesentliches. Denn der um journalistische Distanz ringende Beobachter fragt sich natürlich: Aber was hält diesen Abend zusammen? Warum purzelt der knallbunte, übergroße, jede Verpackung eigentlich sprengende Inhalt dieser Wundertüte den Zuschauern nicht völlig ziellos vor die Füße? Was verleiht diesen dreieinhalb Bühnenstunden Halt, Spannung, Dramaturgie? Warum ist man bis zur letzten Minute gespannt, was jetzt wohl noch kommt? Und gleich? Und dann? Warum ist das alles wirklich eine unglaublich gute Show? Bestes Entertainment, auf internationalem Niveau? Was doch die Deutschen bekanntlich überhaupt nicht können?

Die erste, klarste, aber auch einfachste Antwort darauf: Es ist Helene Fischer selbst. Die Frau kann was. Die Frau will was. Ihre Stimme ist famos. Punktum. Ihre Musikalität ist enorm. Sie hat die körperlichen Kräfte, um solch ein Programm durchzuziehen, an dem vermutlich die meisten ihrer männlichen Kollegen kläglich scheitern würden. Sie ist pünktlich um vier nach acht auf der Bühne. Sie bleibt dort bis kurz nach halb zwölf. In der Zwischenzeit ist sie große Show-Entertainerin. Deutschlands beste.

Aber es kommt noch etwas Wesentliches hinzu. Helene Fischer drückt in ihren Konzerten eine gewisse Haltung aus. Haben wir es schon erwähnt? Sie ist pünktlich um vier nach acht auf der Bühne. Sie bleibt dort bis kurz nach halb zwölf. Und in dieser Zeit vermittelt sie tatsächlich jedem einzelnen ihrer 10 000 Besucher in der ausverkauften Halle, dass sie nur deshalb in Stuttgart ist, um ihn ganz persönlich zu unterhalten, zu erstaunen, anzusprechen, vielleicht ein bisschen fröhlicher zu stimmen, als ihm sonst gerade zumute ist. Ja, man beginnt in ihren Konzerten, selbst wirklich an solche Show-Illusionen zu glauben.

Aus dem aktuellen Hit „Achterbahn“ wird nach und nach eine Clubsound-Nummer

Helene Fischer pokert nicht. Sie gibt nicht die Weltschmerzpoetin, die wieder nur knapp den Weg von ihrer Garderobe auf die Bühne gefunden hat und sich nun erst einmal eine halbe Stunde warm singen muss, bevor sie ein „Hello, Stuttgart“ in die Runde nuschelt. Sie ist von der ersten Minute an präsent, präzise und niemals prätentiös. Warum? „Ihr Lieben“ – offenbar glaubt sie, es dem Publikum schlicht schuldig zu sein.

Zweiter Punkt, auch eine Frage der Haltung: Ja, sie will weiter. Sie will nicht einfach nur wiederholen, was man eh von ihr kennt, obwohl sie auch so den größten Teil ihrer Fans vermutlich zufriedenstellen könnte. Was beim bloßen Hören ihres jüngsten Albums noch eher dezent anklingt, wird bei der Live-Performance und in der Aufbereitung ihres musikalischen Direktors Christoph Papendieck erst richtig klar: Schlager war gestern und ist auch heute. Heute aber ist auch Pop und Song, sind auch Elektrobeats und E-Gitarren. Fischers Stimme kann auch nach Soul und nach Country klingen.

Okay, das alles ist noch exakt dosiert. Sie will auf ihrem Weg möglichst keinen ihrer Fans, die sie in ihrer Schlagerzeit gewonnen hat, verlieren. Deswegen sagt sie wohl an einer Stelle: „Das war jetzt mal ein Countrysong“, damit auch wirklich alle registrieren, ach guck, das war ein Countrysong, klingt ja auch gut. Und wie sie es im zweiten Teil schafft, aus ihren aktuellen Hit „Achterbahn“ nach und nach eine mitreißende Clubsound-Nummer zu machen, wummernd, vibrierend, rumorend, mit großartiger Lichtshow, mit spektakulärem Bühnenbild, mit turbo-tobenden Tänzern – und wie sie ihre zehntausend angeblich doch nur an Schlager interessierten Zuschauer so zum Tanzen, Hüpfen, Klatschen, Armschwenken, Jubeln bringt, das muss man eigentlich selbst miterlebt haben, um es glauben zu können.

Deutscher Pop ohne Deutschtümelei

Bei unserem Nachdenken darüber, was diesen großen Abend zusammenhält, kommen wir aber noch zu einem dritten Haltungspunkt. Helene Fischer ist und will es sein: modern und offen. Was für ein Paradoxon: Wir erleben ein Popkonzert, in dem nur deutsche Texte gesungen werden – von einer Künstlerin, der man rein äußerlich den familiären Migrationshintergrund ja auch nicht ansieht. Aber Helene Fischers Konzert ist zu keiner Sekunde irgendwie deutschtümelnd, verengt oder gar dämpfig verdumpft. Ihre Show ist deutsch auf eine sehr offene, neugierige Art. Sie präsentiert sich inmitten ihrer internationalen, sehr vielfarbig zusammengesetzten Truppe. Politische Statements sind von ihr nicht zu erwarten, sie wären in diesem Rahmen auch fremd. Aber jeder ihrer Fans kann sicher sein, dass es ihr sehr ernst ist, wenn sie im Laufe des Abends als wichtiges Gebot für alle formuliert, Respekt zu zeigen, respektvoll miteinander umzugehen. Behaupte niemand, das heiße nichts. Es gibt deutsche Popgruppen, die eben dies mehr oder weniger subtil leugnen und dafür schon mit dem Musikpreis Echo ausgezeichnet wurden.

„Gute Unterhaltung“ wünschten Moderatoren früher im Fernsehen, wenn eine Show oder eine Komödie anzusagen waren. Es gibt in Deutschland eine intellektuelle Tradition, diesem Wunsch und solchen Programmen grundsätzlich zu misstrauen; das hat auch irgendwie mit Achtundsechzig zu tun. Helene Fischer dagegen bietet zwischen kurz nach acht und halb zwölf auf ihren Bühnen eben dies: gute, beste, schönste Unterhaltung. Das hat zweifellos seinen Wert. Dumm, dies zu leugnen.

Ach ja, „Atemlos“ gab es als Zugabe. Aber selbst atemlos ist Helene Fischer nicht. Auch nicht zu diesem Zeitpunkt.