Vor dem Landgericht haben Gutachter ausgesagt. Foto: Archiv

Kind fast verhungert? Mutter geht in Berufung. Gutachter sagen aus. Gerichtspsychiater spricht von Persönlichkeitsstörung.

Hechingen/Balingen - Eine unerwartete Wende im Prozess gegen die Mutter, deren kleine Tochter wegen Mangelernährung zu sterben drohte: Die Verteidiger der Frau haben gegen den Rechtsmediziner, der den Zustand des kleinen Mädchens begutachtet hatte, Befangenheitsantrag gestellt. Aber der wurde abgelehnt.

Wie mehrfach berichtet, hatte das Amtsgericht die Frau und ihren Noch-Ehemann, die zunächst in Geislingen, später in Balingen gewohnt hatten, für schuldig befunden und zu Bewährungsstrafen verurteilt; das Kind kam in eine Pflegefamilie. Die Ehe zerbrach. Der Mann akzeptierte das Urteil, die Frau ging in Berufung.

In der neuerlichen Verhandlung vor dem Landgericht, in der sich die Frau "durch Schweigen" verteidigt, wurde der ganze Fall noch einmal aufgerollt. Die Zeugen – darunter auch behandelnde Ärzte – wurden ein weiteres Mal gehört, die Gutachter sagten erneut aus.

In seinem Gutachten versuchte der Tübinger Rechtsmediziner Dietmar Benz die Frage zu beantworten, ob es sich um eine mögliche Kindesmisshandlung durch Unterlassung handelte. Er selbst hatte das Kind untersucht – aber erst zwei Monate nachdem in der Reutlinger Kinderklinik der lebensbedrohliche Zustand festgestellt worden war.

Für sein Gutachten hatte er einen Bericht der Reutlinger Klinik, den Bericht des Balinger Landratsamts, Aktennotizen und ein Gespräch mit dem Chefarzt der Klinik in Murnau verwendet, wo das kleine Mädchen – zunächst im Beisein der Mutter – aufgepäppelt worden war.

Seine Schlussfolgerung: Die Mutter habe versucht, sich den Kontrollmechanismen zu entziehen und habe dem Kind nicht immer das verabreicht, was von den Ärzten angeordnet worden war. Seine Empfehlung: die Mutter, die versucht hatte, das kleine Mädchen vegan zu ernähren und offenbar zu keiner einzigen Vorsorgeuntersuchung gegangen war, psychiatrisch untersuchen zu lassen.

Die Schlussfolgerung: Das Wohl des Kindes sei in den Händen der Mutter gefährdet gewesen. Zu einer solchen Situation komme es sonst nur "bei alkohol- oder drogenabhängigen Müttern", resümierte Benz. Für ihn bestehe kein Zweifel, dass es sich um "Kindesmisshandlung durch Unterlassung" handelte, und dass das Kind auch gelitten habe. Bemerkbar müsse der Zustand des Kindes gewesen sein, "schon Monate davor".

Das Gutachten sei nicht unparteiisch und unbefangen, erklärte einer der beiden Verteidiger der Frau. Die Verteidigung lehne den Sachverständigen wegen Voreingenommenheit ab. Unter anderem habe die Tatsache, dass der Sachverständige von einer psychischen Erkrankung seiner Mandantin spreche, mit dem Gutachten nichts zu tun. Die Verteidigung forderte somit ein neues Gutachten durch einen Facharzt für Pädiatrie, weil "Dr. Benz das Sachverständnis fehlt".

Die Staatsanwältin erklärte, dass sie keine Befangenheit erkennen könne und keinen Grund sehe, die Kompetenz des Gutachters in Frage zu stellen. Der Gutachter selbst konterte, dass eine psychische Ursache mit in Betracht gezogen werden müsse, wenn jemand trotz Weisung der Kinderärzte anders vorgegangen sei.

Die Kleine Strafkammer des Landgerichts wies den Befangenheitsantrag nach eingehender Beratung zurück. Eine Voreingenommenheit sei nicht ersichtlich, die Bestellung eines weiteren Sachverständigen nicht erforderlich, weil der Rechtsmediziner die entsprechenden Qualifikationen habe.

Kaum Kritikpunkte fand die Verteidigung dagegen im Gutachten des zweiten Sachverständigen, des forensischen Psychiaters Peter Winckler aus Tübingen. Der hielt sich mit seinen Einschätzungen allerdings zurück – vor allem, weil es keine "persönliche Exploration" der Angeklagten gegeben hatte. Anders gesagt: Die Frau hatte sich geweigert, mit dem Psychiater zu sprechen. Somit war er ausschließlich auf Zeugenaussagen angewiesen. Und die gingen stark auseinander: Während die Familienangehörigen die Frau als unauffällig beschrieben, sprachen ihr Ex-Mann, die Ärzte und die Nachbarn von psychischen Auffälligkeiten, von Wasch- und Desinfektionszwang, von Abschottung und geringem Interesse an sozialen Kontakten. "Außenstehende sollten möglichst wenig Einblick ins Familienleben bekommen", sagte Winckler.

Seine erste Theorie: Die Frau könnte verrückt sein, eine Psychose mit schizophrenen Symptomen und kognitiven Verzerrungen entwickelt haben. Aber dafür gebe es kaum Anhaltspunkte. Zweite Theorie: Die Frau leide an dem Münchhausen-by-proxy-Syndrom, mache ihr Kind absichtlich krank, zum Beispiel durch Vernachlässigung, um dessen Verselbstständigung zu verhindern und es an sich zu binden. Dritte Theorie, laut Winckler die wahrscheinlichste Erklärung: eine neurotische Störung, die zu schweren Verhaltensauffälligkeiten führt, oder eine mögliche Persönlichkeitsstörung mit paranoiden und schizoiden Zügen. Auf keinen Fall sei die Frau in ihrer Steuerungsfähigkeit beeinträchtigt oder gar schuldunfähig gewesen.

Am Freitag, 22. Januar, ab 8.30 Uhr wird plädiert. Mit dem Urteil rechnet der Vorsitzende Richter Marc Barunovic am Freitagnachmittag.