Oliver Blum ist Gesamtelternbeiratsvorsitzender. Foto: Privat Foto: Schwarzwälder Bote

Schule: Der Vorsitzende des Hechinger Gesamtelternbeirats über die Schwächen des Schulsytems, die in der Pandemie anschwellen

Hechingen. Schule in Zeiten von Corona: Oliver Blum, Hechinger Gesamtelternbeiratsvorsitzende, erklärt im Interview, weshalb die Zusammenarbeit zwischen Elternvertreten und Schule auf Augenhöhe in Krisenzeiten an Bedeutung noch gewinnt. Er gibt zu verstehen, dass nicht die Schulschließungen das Problem sind, sondern das Schulsystem an sich – und zwar schon vor Ausbruch der Pandemie.

Herr Blum, ein Elternbeirat ist das Bindeglied zwischen Familie und Schule. Wie funktioniert das in Corona-Zeiten?

Schulen, bei denen die Miteinander-Philosophie üblicherweise darin besteht, dass sich Eltern in Gremien mit dem "Versprechen" wählen lassen, dass es nur zwei oder drei Sitzungen pro Jahr geben wird, verhalten sich anders, als solche Schulen, bei denen permanent Austausch zwischen allen Beteiligten besteht. Elternvertreter, die bislang auf Augenhöhe und konstruktiv mit Schulträger, -leitung, Lehrern und Schulverwaltung zusammengearbeitet haben, können sich nun auch mal zurücklehnen – weil sie sich auf die optimale Umsetzung der aktuellen Gesetzesvorgaben verlassen können. Das verschafft den Entscheidern die nötige Ruhe zur Umsetzung. Dagegen haben es Elternvertreter, die im permanenten Kampf gegen die Schule aktiv sind oder die sich eher zurückhalten, derzeit relativ schwer, weil möglicher Unmut über die Maßnahmenumsetzung keinen guten Boden für Diskussionen hat. Insofern ist der langjährige respektvolle Umgang der Schulleitung mit den Gremien entscheidend für die Qualität der jeweiligen Lösungen. Oder wie es in Führungskreisen heißt: "Jede Führungskraft bekommt die Mitarbeiter (Elternvertreter), die sie verdient."

Was hören Sie zurzeit von den Eltern mit Kindern in den Grundschulen, aber auch in den weiterführenden Schulen? Wo klemmt’s da am meisten?

Seit über 17 Jahren vertrete ich die Eltern im Gesamtelternbeirat der Hechinger Schulen. Das hat es ermöglicht, die wichtigen Themen von den "täglichen Kaffeeklatsch-Aufregern" zu trennen. Die Elternvertreter der einzelnen Schulen treten an mich heran, wenn sie Rat benötigen, zum Beispiel, wie sie ein sensibles Thema an ihrer Schule ansprechen sollen, oder welche juristischen Besonderheiten für bestimmte Fälle gelten. Schulübergreifende Themen werden mindestens zweimal jährlich im Gremium und gegebenenfalls zusätzlich schriftlich diskutiert. Daraus resultierende Aufgaben werden unter den Mitgliedern verteilt. Seit den Schulschließungen habe ich nicht eine Rückmeldung von Elternvertretern erhalten. Im Vertrauen auf die mir bekannte Diskussions-Qualität an den Hechinger Schulen heißt das für mich: Die Eltern sind mit der Arbeit ihrer Schule zufrieden. Kürzlich habe ich die Mitglieder des Gesamtelternbeirats informiert, dass wir die nächste Sitzung per Videokonferenz durchführen werden. Gäbe es Ärgernisse, wären Elternvertreter spätestens zu dem Zeitpunkt auf mich zugekommen.

In jeder Klasse gibt es starke, mittelmäßige und lernschwache Kinder. Wird das Gefälle durch die Zwangspause nicht langsam gefährlich für die lernschwachen Kids?

Unser Schulsystem benachteiligt grundsätzlich die lernschwachen sowie die lernstarken Kinder. Denn das System bildet nach dem größten gemeinsamen Nenner aus. Dazu kommt, dass das Schulsystem bereits bei der Lehrerausbildung um mehr als eine Generation dem aktuellen Weltwissen hinterherhinkt. So müssten zum Beispiel Computeraffinität und aktuelles Wissen über Schulrecht sowie Elternrechte und -pflichten Grundvoraussetzungen für den Lehrerberuf sein. Fortbildungen sollten entsprechend der seit Jahren bestehenden Verwaltungsvorschrift während der unterrichtsfreien Zeit durchgeführt werden, um die selbst verursachten Unterrichtsausfälle zu eliminieren. Die Inhalte dieser Fortbildungen sollten den kritischen Monierungen der Hochschulen und Unternehmen folgen, um die spätere Ausbildungsbefähigung der Schüler sicherzustellen. Zudem: Eltern sind es nur im Urlaub gewohnt, für ihre Kinder rund um die Uhr da zu sein. Im ländlichen Bereich, wo man recht gefahrlos schnell mal an die frische Luft kann und die Arbeitgeber überwiegend mittelständische Unternehmer sind, die oft selbst Kinder haben, ist das Jammern über die aktuellen Maßnahmen weniger angebracht als in einer großflächig asphaltierten Stadt mit Hochhäusern und anonymen Wohneinheiten. Insofern sind wir in Hechingen noch sehr weit weg von den "vielfach geäußerten und medial kontraproduktiv verbreiteten Katastrophen", die eher für existenzielle und lebensbedrohliche Nöte Gültigkeit haben. Solche Nöte also, wie sie einige Generation vor uns erleben mussten. Allerdings wird der Unterschied zwischen lernschwachen und lernstarken Kindern jetzt deutlicher. Weil sich die Aufgaben und der Arbeitsumfang eher an den langsamer lernenden Schülern orientieren. Das führt dazu, dass die "Schnelleren" unterfordert sind. Für weiterführende Schulen könnte man ein Patenmodell diskutieren, bei dem die schnelleren den langsameren Kindern über Videokonferenzen unterstützend helfen. Für die Grundschulen sehe ich keinen besonderen Handlungsbedarf, da der Lernstoff gut von den Eltern vermittelt werden kann. Für die geringe Anzahl von Eltern, die dazu nicht in der Lage sind, wäre ein Präsenzunterricht für deren Kinder unter den geltenden Hygienemaßnahmen räumlich und zeitlich gut umsetzbar. Dieser Unterricht könnte zum Beispiel über Videokonferenz von den nicht anwesenden Kindern miterlebt werden. Im Übrigen halte ich ein Modell mit offenen Klassenzimmern für ein probates Mittel, um guten Unterricht in Form von Videoaufzeichnungen nacharbeiten zu können. Dies ist jedoch eine Generationenaufgabe, weil es dazu es eines kompletten Umdenkens der "Arbeitsplatzbeschreibung und des Anforderungsprofils Lehrer" bedarf. Die daraus resultierende Lerneffizienz würde die sozialen Klüfte, deren Ursache stoisch auf die soziale Herkunft reduziert wird, sofort verkleinern.

Hat die Politik, was Schule angeht, in der Krise versagt?

Die Politik hat im Rahmen der bescheidenen Möglichkeiten, die sie ja selbst geschaffen hat, in der Krise nicht versagt. Sie versäumt es jedoch tagtäglich, der Ausbildung den ganzheitlichen und lebensdurchgängigen Stellenwert einzuräumen, um den immer schneller werdenden Weltmarkt-Anforderungen gerecht zu werden. Das Stückwerk von 16 Schulgesetzen und ihren Tausenden von Verordnungen und Arbeitsanweisungen ist weder kompatibel mit den regionalen Befindlichkeiten und Selbstherrlichkeiten vieler Ausbildungsinstitutionen. Noch ist es auf der Höhe der Zeit mit dem Anspruch an eine moderne Arbeitswelt. Wenn Schule und Ausbildung noch allzu lang das Spielballergebnis von Parteien und Politikkompromissen sind, werden uns die bei Datenschutz und Erfolgshunger weniger empfindlichen Systeme die Vorreiterrolle unseres Schul- und Ausbildungssystems streitig machen. Das Resultat sind heute bereits alle Produkte, die wir wegen unserer höheren sozialen Ansprüche im Vergleich zu den Herstellländern nicht mehr in der Lage sind, selbst herzustellen zu den Preisen, die wir erwarten. Ein wettbewerbsfähiges Ausbildungssystem verbindet soziale Gerechtigkeit mit höchster Qualität auf allen Stufen des lebenslangen Lernens. Es führt bei perfekter Umsetzung zu maximaler Leistungseffizienz bei größter Lebenszufriedenheit. Ein solches System müssen Forscher und Wissenschaftler frei von politischem Einfluss entwickeln, und es muss ständig überprüft und angepasst werden.

n Die Fragen stellte Maja Dick