Jürgen Reuter (Aktive Bürger) bei seiner Haushaltsrede 2023, flankiert von seinen Fraktionsmitgliedern Frank Kuner (links) und Hilmar Bühler (rechts) Foto: Riesterer

"Quo vadis 2023?" betitelt Jürgen Reuter von den Aktiven Bürgern seine Haushaltsrede. Er plädiert zudem für einen Juristen als Beigeordneten – wie es ihn in den ersten Jahren der Amtszeit von Herbert O. Zinell mit Eberhard Pietsch gegeben hatte. Wir veröffentlichen seine Rede im Wortlaut.

Schramberg - Sehr geehrte Frau Oberbürgermeisterin, sehr geehrte Damen und Herren, Schramberg erfüllt voraussichtlich nicht alle Voraussetzungen, die im neuen Landesentwicklungsplan für ein Mittelzentrum gefordert sind, die im Juli 2010 vom Kreistag beschlossene Portalklinik wurde im „Vabanque“ verzockt, das Krankenhaus im Oktober 2011 geschlossen.

Zerfallende Brache

Der Umgang mit der zerfallenden Brache wirkt zudem hilflos. Das Krankenhaus Villingen schloss im Juli 2013, im Mai 2015 begann der Abriss, heute stehen dort Wohnhäuser – Schramberg überlegt noch …

Wer die Rahmensetzungen des neuen Landesentwicklungsplans kennt, vermeidet Entscheidungen, die aus dem Rahmen fallen und füllt die künftigen Angebotslücken schon heute passgenau aus.

Rückstufung zum Unterzentrum?

Bei einer Rückstufung zu einem Unterzentrum hätte Schramberg weniger Aufgaben, die Oberbürgermeisterin weniger Arbeit, weniger Verantwortung und keine 60-Stunden-Woche mehr. Schramberg könnte sich in die attraktive Reihe der „citta slow“ einreihen, dürfte sich behutsam erweitern, könnte auf Ökologie, auf Wohn- und Lebensqualität, statt auf schnelles, wucherndes Wachstum setzen.

Halten Sie sich bitte eine Europakarte vor Augen. Verlängern Sie die Donau von Ost nach West bis Paris, den Rhein von Nord nach Süd bis nach Italien und die Rhone über Berlin bis ins Baltikum. Der Oberrhein bildet den Schnittpunkt dieser langen Linien, er ist der Verkehrsknoten Europas schlechthin. Ein großer Teil der 400 Milliarden Euro europäische Aufbauhilfe für die Ukraine wird über ihn abgewickelt.

Steil und nicht leistungsfähig

Einfach ist das nicht, die Bahnlinien über den Schwarzwald sind steil und nicht leistungsfähig, Autobahnen über den Schwarzwald gibt es nicht und die Schweiz begrenzt in den Artikeln 84 bis 86 der Verfassung die Kapazität der Ausweichrouten für den Transit schwerer Lastwagen.

Straßen für den Schwerverkehr sind vom Unterbau bis zum Lärmschutz sehr aufwendig. Würde der Bund den Güterverkehr nicht auf leistungsfähige Straßen kanalisieren, würde er bei punktueller Überlastung von Engstellen durch Navis in die Fläche, auf schmale Straßen durch kleine Dörfer wie Rötenberg gesteuert. Personen- und Straßenschäden sind dann nur noch eine Frage der Zeit.

Energieeffizienz entscheidend

Die Entscheidungsträger in Straßburg, Berlin, Stuttgart und Freiburg setzen auf den niedrigsten und energieeffizientesten Übergang. Seit August 2016 ist die Beseitigung des Kapazitätsengpass im Bundesverkehrswegeplan verankert, Bundespräsident Joachim Gauck unterzeichnete im Dezember 2016 die Ausbaugesetze. Ingenieure werden von Projekt zu Projekt weitergereicht, Tunnelbohrmaschinen gibt es nicht im Baumarkt. Vor drei Wochen begann die „Bung Ingenieure AG“ aus Heidelberg mit den ersten beiden Planungsschritten.

Im Oktober 2017 senkte sich bei Bauarbeiten der Gleiskörper der Rheintalbahn bei Rastatt. Der volkswirtschaftliche Schaden von 51 Tagen Sperrung ging in die Milliarden. Resilienz durch Ausweichstrecken ist Ziel des nächsten Bundesverkehrswegeplans. Wird im Kinzigtal der Personenverkehr auf die Schiene verlagert, steigert das die Kapazität des Güterverkehrs. Auf den drei- oder vierspurigen Ausbau kann dann verzichtet werden, die eigentliche Rendite aber liegt in den Synergieeffekten einer stringenten Strukturpolitik.

Seele der gemeinsamen Identität fehlt

Dem Landkreis Rottweil fehlt die Seele einer gemeinsamen Identität, er zerbricht: Eine S-Bahn nach Schömberg wird Rottweil an Tübingen anbinden, Dornhan orientiert sich nach Freudenstadt. Die Grenze des Kulturraums Schwarzwald verläuft entlang der Wasserscheide zwischen Neckar und Rhein, vom Brogen kommend über Hardt, Sulgen, Aichhalden und Rötenberg – und öffnet sich zum Rhein als Lebensader Zentraleuropas.

Richtung Ortenau entwickeln

Aus Schiltach und Schenkenzell besuchen fast keine Schüler die schadstoffbelastete Dauerbaustelle Gymnasium. Mit der S-Bahn nach Schiltach könnte der westliche Landkreis Rottweil an die Ortenau fallen, mit dem Kinzigtal-Tourismus sind wir schon dort.

Von Hornberg nach Offenburg benötigt ein Zug nur 28 Minuten. Ausgehend von Offenburg und Straßburg gibt es dann weitreichende ICE- und TGV-Direktverbindungen, ab Straßburg in 1 Stunde und 44 Minuten ins Zentrum von Paris.

Vor einem Jahr zitierte ich an dieser Stelle das Regierungspräsidium Freiburg mit der Frage, ob wir in der Auseinandersetzung mit der eigenen Leistungsfähigkeit offen und mutig genug sind, uns auf Veränderungen einzulassen.

Tief in der Sackgasse

„Probleme lassen sich nicht mit Denkweisen lösen, durch die sie entstanden sind.“ Kann Schramberg frei nach Albert Einstein das selbstgefällige Geschwätz des politischen Stammtisches abschütteln, der Schramberg über Jahrzehnte tief in eine Sackgasse manövrierte und in hohem Alter nicht mehr in Alternativen denken kann?

Die Wirtschaftsleistung der Trinationalen Metropolregion Oberrhein ist mit Irland oder Finnland vergleichbar. Der sozioökonomische Disparitätenbericht der Friedrich-Ebert-Stiftung weist bei höheren Bildungsabschlüssen des Mittleren Neckar eine Stagnation und für den Oberrhein ein sehr starkes Wachstum aus. Das wundert nicht, die Universität Straßburg mit 50 000 Studienplätzen gehört zum Universitätsverbund EUCOR, ein beeindruckendes Netzwerk der Universitäten Karlsruhe, Straßburg, Mulhouse, Basel und Freiburg mit 130 000 Studienplätzen, 13 500 Plätzen für Promovierende und 15 000 für Forschende … Stuttgart bietet nur 36 000 Studienplätze.

Wo ist der attraktivste Partner Schrambergs?

Wo ist der attraktivste Partner Schrambergs – und wie attraktiv ist Schramberg, wenn wir die Gewerbesteuer ausblenden? Was könnten wir in die Waagschale werfen, was da nicht schon liegt?

25 Jahre nach der Rede von Bundespräsident Roman Herzog im Hotel Adlon „muss ein Ruck durch Schramberg gehen“. Selbstverständlich steht der Gemeinderat als Hauptorgan bereit, über strukturpolitische Alternativen, über das Auflösen ineffizienter Doppelstrukturen und verzahnende Kooperationen mit anderen Partnern nachzudenken.

Viel begonnen, wenig zu Ende gebracht

Unsere Stadtverwaltung beginnt viel und bringt wenig zu Ende. Das Delta zwischen Wunsch und Wirklichkeit wächst von Sitzung zu Sitzung. Mit einem viel zu großen Strauß von Aufträgen ermöglichen wir die Flucht in die Komfortzone. Wenn ein Auftrag ins Stocken gerät, bleibt er liegen, dann macht man ein Bürgergespräch und das nächste Fass auf.

Mehr Effizienz gefordert

Wer Schwerpunkte setzt, muss Verzicht üben. Die emotionale Bindung zu niedlichen Tieren ist sicher wichtig für die „work-life-balance“, aber der Sachverständige für Taubenhäuser hat den Gemeinderat eine Stunde Zeit gekostet – verlorene Zeit, denn die Sanierung des Gymnasiums zieht sich endlos, die Kostenexplosion bei der Vereinshalle Tennenbronn machen den Neubau unwahrscheinlich – und ob der Schulcampus nur geplant oder auch gebaut wird, steht in den Sternen. Zuschüsse für einen Neubau sind eher nicht zu erwarten, denn der Bestand ist verschmutzt, überfrachtet und ungepflegt, nicht abrissreif.

Reihenfolge definieren

Die Effizienzrendite aus der überfälligen Straffung verkrusteter Organisationsstrukturen darf nicht zu einer Inflation der Ziele führen, neue Aufträge müssen in die definierte Reihenfolge eingeordnet werden. Die politische Verantwortung für die Priorisierung liegt beim Gemeinderat. Er könnte sie über eine „Haushaltsbewirtschaftung in kleinen Schritten“ wahrnehmen. Eine tabellarische Zusammenfassung zu jeder Gemeinderatssitzung mit der Freigabe aller unmittelbar anstehender Abschnitte in einem Beschluss sind kein Hexenwerk.

Die Priorisierungswünsche politisch einflussreicher Kräfte, die Balance zwischen der Renditemaximierung von Investoren und den Interessen der Bevölkerung könnten über „Compliance-Regeln“ geordnet und begrenzt werden.

Jurist als Beigeordneten beantragt

Wir beantragen, der Oberbürgermeisterin einen integren Juristen als Beigeordneten zur Seite zu stellen, der die Aufgabenfelder Recht-, Bau- und Personal eigenverantwortlich steuert und dem Gemeinderat Rechenschaft ablegt – und stimmen dem Haushaltsentwurf der Oberbürgermeisterin zu.

Info

Zur Verabschiedung des Haushalts halten die fünf Fraktionsvorsitzenden oder Sprecher der Schramberger Gemeinderatsfraktionen ihre Haushaltsreden. Dies sind: Thomas Brantner (CDU), Tanja Witkowski (SPD/Buntspecht), Udo Neudeck (Freie Liste), Jürgen Reuter (Aktive Bürger) und Volker Liebermann (für Bernd Richter, ÖDP).