Interview: Der Hausacher Schriftsteller, Lyriker und Leselenz-Kurator wird am heutigen 20. Juli 60 Jahre alt
Hausach. Er ist ein international bekannter Lyriker und Schriftsteller, im Kinzigtal aber vor allem als Erfinder, Kurator und Organisator des Literaturfestivals Leselenz bekannt. Dieses gewinnt seit seinem Beginn vor mehr als 20 Jahren immer mehr an Bedeutung, auch international. Am heutigen 20. Juli wird José Oliver 60 Jahre alt. 60 Jahre, in denen er als Sohn von Einwanderer seiner Heimat Hausach immer treu geblieben ist.
Herr Oliver, Sie werden jetzt 60 Jahre alt. Fühlen Sie sich eher alt oder jung?
Ich habe noch nie in den Kategorien alt oder jung gedacht oder gefühlt. Ich hatte schon als sehr junger Mensch den Eindruck, dass irgendwas in mir anders ist, dass ich zum Beispiel in vielen Situationen das Gefühl hatte, manches schon erlebt zu haben. Vieles war mir so klar, ohne dass ich es mir erklären konnte. Irgend jemand hat mal den Begriff der "alten Seele" in den Raum geworfen. Die vermittelt mir mein Alter. Insofern fühle ich mich weder jung noch alt, ich fühle mich meistens zeitlos.
Sie sind der Sohn andalusischer Einwanderer. Was ist Ihre eindrücklichste Kindheitserinnerung?
Als wir die erste Reise nach Andalusien gemacht haben. Das ging damals ja vier, fünf Tage im Auto, durch Frankreich, durch Spanien, fast keine Autobahn. Und dann die Hitze dort und die Armut in den 60er-Jahre in Südspanien. Ein völlig andere Welt. Und ich weiß noch, wie es auf der Rückfahrt nach Deutschland immer grüner wurde. Ich dachte damals, "ins Gras beißen" bedeutet, dass jemand, der sechs Wochen in Andalusien war, wieder in den Schwarzwald zurückkommt, sich so freut, dass er am liebsten ins Gras beißen würde. Erst später wurde mir die andere Bedeutung klar. Da war ich vielleicht vier oder fünf Jahre alt.
Warum sind Sie Zeit Ihres Lebens in Hausach geblieben und nie in eine größere Stadt gezogen, die Ihnen mehr Möglichkeiten als Schriftsteller bieten könnte?
Für mich war bald klar, dass ich Dichter bin – egal, wo ich lebe. Letzten Endes entscheidet dann doch oft die Qualität über Erfolg oder Nicht-Erfolg. Ich bin sehr gerne fortgegangen, hinaus in die sogenannte große, weite Welt. War viel in Südamerika, in Peru, in Kanada und den USA. Aber ich musste immer wieder in den Schwarzwald zurück, heim. Irgendwann wurde mir klar, dass überall auf der Welt zwei wesentliche Themen gibt: Liebe und Tod. Provinz geht durch den Kopf und das Herz. Ich kenne provinzielle Menschen in den Metropolen und kosmopolitische Menschen auf dem Dorf. Ich brauche das Überschaubare für mich und mein Schreiben; um nachzuspuren, was ich erlebt habe. Und Heimat war für mich immer dort, wo ich mich nicht erklären muss.
Inwiefern haben Hausach und das Kinzigtal Sie zu dem Menschen gemacht, der Sie heute sind?
Der Schwarzwald ist mein grünes Meer. Meine Eltern kommen aus Malaga, vom Mittelmeer, dem blauen Meer. Die Verbindung aber zum Wald hat mich schon geprägt. Auch das Herauskristallisieren der wichtigen Themen. Ich bin an einem Friedhof aufgewachsen, da war der Tod allgegenwärtig. "Liebe und Tod, wie Wild das plötzlich kreuzt", habe ich mal einem Gedicht geschrieben. Die Sehnsucht, ein Leben führen zu können, in dem man sich selbst sein kann, ist das Bedeutendste. Und die Charaktere der Menschen wiederholen sich überall. Es gibt verschlossenere Menschen, offenere, gescheiterte oder welche, die scheinbar scheitern, erfolgreiche Menschen, Menschen, die die Einsamkeit suchen, welche, die in der Gemeinschaft unterwegs sind. Das ist universell. Ich habe all das Universelle auch hier.
Ist das eher interessant oder langweilig, wenn sich das so wiederholt?
Das ist eher versöhnlich. Letzten Endes trägt das nämlich auch die Möglichkeit des Zusammenlebens in sich, dass Menschen doch, egal welcher Herkunft, Kultur oder Religion sie entstammen, eine ungemeine Sehnsucht haben, Mensch sein zu dürfen. Dann kann ich Sätze sagen wie "jeder Mensch ist ein Vers". Manche fügen sich in ein Sonett, manche in einen freien Vers, manche in einen Reim, andere ins Ungereimte. Ich glaube, dass die Würde eines Menschen in New York nicht anders ist als die eines aus dem ländlichen Seitental.
Aber hat Würde nicht auch etwas damit zu tun, wie man behandelt wird?
Ja. Wie man behandelt wird, den anderen respektiert und ihm auf Augenhöhe begegnet. Wenn ich an meine Werkstätten denke: Ich habe am RGG nichts anderes gemacht als an einer Förderschule in Zell oder an einer Universität in den USA. An der einen Institution rede ich abstrakter, an der anderen bildlicher. Aber das Credo, dass jeder Mensch Poesie in sich trägt und man nur die Räume dafür schaffen muss, dass sie zum Ausdruck kommt, gilt überall. Überall gibt es poetische Momente. In Sprache oder in Gesten, im Tun. Da kann ich ansetzen und überlegen, wie ich das in eine Mitteilung in Sprache übersetze. Alles hat poetische Augenblicke. Sprache ist einfach auch schön, wo es um Poesie geht. Und wenn man die Schönheit von Sprache entdeckt, hat man auch die Möglichkeit, ihre Hässlichkeit wahrzunehmen.
War das vergangene Jahr angesichts Corona als ein Kulturschaffender eines ihrer schwierigsten?
Schwierige Jahre waren für mich die, in denen ich jemanden zu Grabe tragen musste, den ich geliebt habe. Als mein Vater starb oder als Gisela Scherer. Ökonomisch war es sicher das schwierigste. Ich wusste ein, zwei Monate nicht, wie ich die Miete zahlen sollte. Ohne Familie und Freunde wüsste ich nicht, was passiert wäre. Es wurden einfach zu viele Veranstaltungen abgesagt. Leider. Das meine ich nicht mal als Vorwurf. Es gab eine unglaublich große Hilflosigkeit angesichts dessen, was da auf uns zugekommen ist. Es war so anders, so neu und kam in einer Geschwindigkeit, mit der keiner gerechnet hatte. Kunst und Kultur litten sehr stark. Man hätte andere Formen der Entscheidungsgestaltung finden müssen. Ich hätte mir mehr runde Tische gewünscht, an denen auch andere gesellschaftlich relevante Gruppierungen dabei sind, um für das eine oder andere pragmatischere Lösungen zu finden.
Was wünschen Sie sich zum Geburtstag?
Ich habe mich immer vor Ideologien und Extremismus gefürchtet. Deswegen: Gesellschaftlich weniger Extremismus. Dass die Menschen für sich mehr Poesie entdecken. Oder dass sie die Möglichkeit dazu bekommen, frei nach dem Motto "Poetisiert euch!" Und für mich persönlich Gesundheit. Ich möchte noch viele Jahre so leben können, mit dieser Energie und Freude am Leben.n Fragen: Charlotte Reinhard
José Fransisco Agüera Oliver, geboren am 20. Juli 1961, wurde in als Sohn andalusischer Einwanderer in Hausach geboren. Er wuchs mit Deutsch und Spanisch auf und beherrscht auch den alemannischen Dialekt. Oliver ist Verfasser von Gedichten, Kurzprosa und Essays zu kulturpolitischen Themen.