Baden-Württembergs Ministerpräsident lässt sich in Hannover von Firmen die neueste Technologien vorführen und ihre Sorgen erläutern.
Hannover - Was fasziniert Winfried Kretschmann am meisten auf der Industriemesse in Hannover? Der Ministerpräsident von Baden-Württemberg schüttelt den Kopf. Nein, diese Frage gefällt ihm offensichtlich nicht. „So schaue ich das nicht an“, sagt er kurz und bündig. Ihm sei wichtig, wie die Unternehmen aufgestellt sind. Die Wirtschaft befinde sich in einem Prozess der Veränderung. Industrie 4.0 heißt das Schlagwort, das nicht nur Kretschmann, sondern alle Firmen umtreibt. Die Produktion wird digital vernetzt, das verändert die gesamten Geschäftsprozesse. Und wie ist der Südwesten für die Zukunft aufgestellt? Rund ein Dutzend Termine hat sich Kretschmann auf der Industriemesse organisiert, um sich einen Überblick zu verschaffen.
Los geht es in Halle neun beim Sensorhersteller Leuze Electric aus Owen im Kreis Esslingen. Das Unternehmen hat fast 1000 Mitarbeiter und macht einen Umsatz von knapp 160 Millionen Euro. Leuze bietet Technologien mit denen etwa die Qualität von Transportbändern überwacht werden kann. Fachleute sprechen von Predictive Maintenance, von vorausschauender Wartung. Kretschmann setzt eine Datenbrille auf und kann damit quasi in die Sensoren hineinschauen. Alle Informationen, die die kleinen Datensammler erfassen, kann der Grünen-Politiker damit lesen.
Danach geht es zum Stand von Siemens. Dort schaut der Ministerpräsident zuerst auf einen Schrank voller Kabelwirrwarr und danach auf eine aufgeräumte Display-Wand. So wird die Produktion von gestern und heute dargestellt. Umständliche Überwachung war gestern, sagt ein Siemens-Manager. „Dank der Software weiß man, dass die Maschine funktioniert.“
Bundeskanzlerin Angela Merkel eröffnet die Industriemesse
Messen sind traditionell nicht nur ein Publikumsmagnet, sie ziehen auch Politiker an. Kretschmann ist keine Ausnahme, er war schon häufig in Hannover, Bundeskanzlerin Angela Merkel ebenso. Sie hat die Industriemesse mit Beata Szydlo, der Ministerpräsidentin des diesjährigen Partnerlandes Polen, eröffnet. Die beiden Frauen haben am ersten Tag gemeinsam einen Messerundgang absolviert. Mehrere EU-Kommissare haben Hannover besucht, darunter der frühere baden-württembergische Ministerpräsident Günther Oettinger.
Bundeswirtschaftsministerin Brigitte Zypries, Bildungsministerin Johanna Wanka und Arbeitsministerin Andrea Nahles waren ebenfalls da. Insgesamt werden an den fünf Messetage 73 politische Delegationen in der niedersächsischen Landeshauptstadt erwartet. Darunter auch Baden-Württembergs Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut. Sie war bereits einen Tag vor Kretschmann in Hannover. Sie habe ein straffes Programm absolviert, ist zu hören. Drei Seiten lang sei der Ausdruck mit den Firmen gewesen, die sie besucht hat. Bei Kretschmann sind es „nur“ zwei. Teilweise haben Ministerpräsident und Wirtschaftsministerin dieselben Firmenstände angesteuert.
Ein paar Stände weiter warten bereits die nächsten Firmenvertreter in Halle neun. Der Sensorhersteller Balluff aus Neuhausen steht auf dem Programm. Anschließend steuert Kretschmann Halle 15 an, in der sich der Automatisierungsspezialist Festo, die Maschinenbauer Wittenstein, SEW-Eurodrive und Faulhaber präsentieren. Kretschmann beobachtet Roboter bei der Arbeit, lässt sich die Zusammenarbeit von Mensch und Maschinen erklären, berührt einen Assistenzroboter, dessen Aussehen einen Elefantenrüssel abgeguckt wurde. Bei Wittenstein erfährt er, dass die Sensoren zehn Millionen Daten pro Sekunden erfassen können.
Kretschmann sieht Nachholbedarf bei kleineren Firmen
Ist Kretschmann von all’ diesen technologischen Möglichkeiten nicht doch ein wenig fasziniert? Anmerken lässt er es sich jedenfalls nicht. Stattdessen sagt er: „Ich habe einen guten Eindruck“ von den Unternehmen im Südwesten. Alle Firmen „sind dran“, ihr Portfolio um ganz neue Anwendungen zu erweitern. Bei Festo – und jetzt wirkt Kretschmann doch ein wenig beeindruckt – hätten sich durch den verstärkten Einsatz von Software die Anwendungsmöglichkeiten verzehnfacht. Festo mit seinen 18 800 Mitarbeitern weltweit und seinem Umsatz von 2,7 Milliarden Euro (2016) ist einer der Treiber, wenn es um digitale Technologien geht. Deutschland habe gute Chancen wenn es um das Internet der Dinge gehe. „Wir haben die Dinge“, sagt Kretschmann durchaus stolz und meint die Maschinenkompetenz. Und beim Internet sieht er „den Kuchen noch nicht verteilt". Zwar hätten die USA Firmen wie Google oder Amazon, doch wenn es um die digital vernetzte Produktion gehe, seien eben andere Internetkompetenzen nötig.
Nachholbedarf sieht der Ministerpräsident bei kleineren Firmen, die allerdings auch größere Probleme haben. Fachkräfte würden auf allen Ebene gesucht, nicht nur Hochschulabsolventen, auch Facharbeiter. In Deutschland fehlten allein 150 000 Fachkräfte, die sich mit Software und Hardware auskennen würden. Jobs bei Daimler werden als die „Vorstufe zum Paradies“ gesehen, sagt Kretschmann. Kleine Unternehmen hätten häufig das Nachsehen. Dabei liege es nicht an den Produkten, sondern eher an der mangelnden Bekanntheit. Auf dieses Problem hat auch der Sensorhersteller Leuze hingewiesen.
Bisher habe er diese Schwierigkeiten vor allem mit Regionen verbunden, die fernab der Ballungszentren liegen, sagt Kretschmann später. „Das ist schwer zu lösen“, fügt er hinzu. Denn „lernen dauert seine Zeit“. Und das gelte sowohl für junge Menschen, als auch für angehende Lehrer. Vor allem um Hauptschüler, die ohne Abschluss die Schule verlassen – immerhin zwölf Prozent – müsse man sich kümmern. Und man müsse junge Mädchen für die Technik begeistern, am besten schon im Kindergarten. Früher habe er mit dem Modellbaukasten oder der Modelleisenbahn gespielt, vergleichbare Dinge benötige man für junge Mädchen, sagt Kretschmann.