Tilda Swinton und Idris Elba im Fantasy-Epos „3000 Years of Longing“ Foto: Festival de Cannes

Gesellschaftskritische Skandinavier die Nase vorn im Palmen-Rennen. Für Aufsehen sorgen Schauspielerin Vicky Krieps und Elvis Presleys Enkelin Riley Keough.

Auch am Wochenende wird Glamour groß geschrieben auf dem roten Teppich vor dem Festivalpalast in Cannes: Julia Roberts gibt sich die Ehre als Gast einer Luxusuhren-Marke, Tilda Swinton und Idris Elba zeigen sich zur Weltpremiere ihres Films „3000 Years of Longing“.

 

Der Regisseur George Miller („Mad Max“ ) erzählt nach einer Geschichte von A. S. Byatt übers Geschichtenerzählen: Eine Literaturwissenschaftlerin befreit während einer Israel-Reise zufällig einen Flaschengeist und lässt sich, statt drei Wünsche zu äußern, solange von dessen Erzählungen über Liebe, Verlangen und Einsamkeit in den Bann ziehen, bis sie sich selbst nach Liebe sehnt.

Eher Kitsch als Filmpoesie

Das ist halb Kammer- bzw. Hotelzimmerspiel in Bademänteln, halb Fantasy-Epos voller Jahrtausende alter Mythen – nicht langweilig und dank der Stars sehenswert, letztlich aber doch eher Intellektuellen-Kitsch als romantische Filmpoesie.

Während Millers Film außer Konkurrenz läuft, sorgt im Wettbewerb vor allem „Triangle of Sadness“ des schwedischen Palmen-Gewinners Ruben Östlund für Gesprächsstoff. Sein Film beginnt vermeintlich als Satire auf das moderne Model- und Influencer-Business. Doch dann verschlägt es das hübsche junge Pärchen vom Anfang auf eine Luxuskreuzfahrt für die Superreichen, die sich im wahrsten Sinne des Wortes in eine „shit show“ verwandelt (wie die Amerikaner es wohl nennen würden). Am Ende werden auf einer Insel die sozialen Hierarchien endgültig auf den Kopf gestellt und ein handfester Überlebenskampf beginnt.

Östlund bietet herrliche komische Momente

Ähnlich wie beim Vorgänger „The Square“ zeigt sich auch hier, dass Östlund kein Mann für Subtile ist. Seine Kapitalismus- und Oberflächenkritik ist schrill und plakativ, und die Grenze zwischen böser Satire und plumper Überheblichkeit verrutscht ihm immer wieder. Gleichzeitig ist sein überlanger Film der bislang kurzweiligste im Rennen um die Goldene Palme. Er hat viele herrlich komische Momente, eine denkwürdige Seekrankheits-Passage sowie ein spielfreudiges, internationales Ensemble. Zu dem gehört neben Woody Harrelson und dem britischen Shooting Star Harris Dickinson auch Iris Berben, die als Schlaganfallpatientin bloß die immer gleichen vier Worte sagen darf. Doch in Erinnerung bleiben vor allem Sunnyi Melles sowie die von den Philippinen stammende Dolly De Leon.

Überzeugen können im Wettbewerb auch zwei weitere skandinavische Regisseure, die allerdings beide ihre Wurzeln anderswo haben. Tarik Saleh, aus Schweden stammender Sohn ägyptischer Eltern, und Ali Abbasi, der in Teheran geboren wurde und seit seinem Filmstudium in Dänemark lebt, gehen beide das erste Mal ins Rennen um die Goldene Palme – und sie nutzen das Genrekino, um von patriarchal-fundamentalistischen Gesellschaftsstrukturen in islamischen Ländern zu erzählen und von der Verquickung von Religion und Staatsgewalt.

Seltene Einblicke in nicht-christliche Kulturen

Saleh bringt mit „Boy From Heaven“ einen Geheimdienst-Thriller auf die Leinwand. Ein junger Fischerssohn wird an der islamischen Al-Azhar-Universität in Kairo von der Staatssicherheit angeworben, als nach dem Tod des sunnitischen Scheichs ein Machtkampf ausbricht. Unterdessen ist Abbasis „Holy Spider“, basierend auf wahren Begebenheiten, ein packender Serienkiller-Film über die Jagd nach einem Prostituierten-Mörder, der immer mehr zu einem Polit- und Justizdrama wird.

Diese eindrucksvollen, mutigen Filme geben auf eine Weise Einblicke in nicht-christliche Kulturen, wie man sie so faszinierend selten sieht. Besonders stark sind in „Holy Spider“ die schauspielerischen Leistungen, nicht nur von Zahra Amir Ebrahimi als Journalistin und Mehdi Bajestani als Mörder, sondern auch von der deutschen Schauspielerin Sara Fazilat, die für „Nico“ aktuell für den Deutschen Filmpreis nominiert ist.

Highlights finden sich bislang eher außerhalb des Wettbewerbs

Davon abgesehen sind echte Cannes-Highlights in der ersten Festivalhälfte weniger im Wettbewerb zu finden. Nicht ganz zu alter Form finden alte Hasen wie Arnaud Desplechin mit seiner Familiengeschichte „Frère et soeur“ oder der Rumäne Cristian Mungiu mit dem in Siebenbürgern angesiedelten Drama „R.M.N.“. Dafür brilliert die Luxemburger Schauspielerin Vicky Krieps („Das Boot“) in der Nebenreihe Un Certain Regard gleich in zwei Filmen, als österreichische Kaiserin Elisabeth in „Corsage“ von Marie Kreutzer sowie als todkranke Mittdreißigerin in „Mehr denn je“ der deutsch-französischen Regisseurin Emily Atef.

Eine echte Entdeckung in der gleichen Sektion: „War Pony“, ein einfühlsames, in einem indigenen Reservat in South Dakota angesiedeltes Jugenddrama. Regie führt hier, gemeinsam mit Gina Gammel, Elvis Presleys Enkeltochter Riley Keough, die man sonst als Schauspielerin kennt. Dass sie noch ein paar Tage in Cannes bleibt, um am Mittwoch der Weltpremiere des mit Spannung erwarteten Biopics „Elvis“ von Baz Luhrmann beizuwohnen, versteht sich von selbst.