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Günter Netzer war Popstar, Rebell und Fußballpoet – vor allem aber war er ein Genie am Ball. An diesem Sonntag feiert er seinen Geburtstag. Netzer wird 70 Jahre alt.

Stuttgart - Es ist Jahre her, als der lange Blonde dem jungen Redakteur die Scheu vor großen Namen nahm. Der war bis dahin ein stiller Bewunderer dessen hoher Fußballkunst gewesen. Nun legte er ihm das erste gemeinsame Interview zur Autorisierung vor. Günter Netzer meldete sich per Telefon: „Gut gemacht. Sie dürfen wiederkommen.“

Immer wieder gerne, zuletzt im vergangenen Jahr. Da erlebte der nunmehr gereifte Reporter wieder einen jener Momente, für die er Netzer schätzt. Er konfrontierte ihn mit einem eigenen Zitat: „Nächstes Jahr werde ich 70 Jahre alt. Es rieselt überall der Kalk.“ Aus dem Hörer kam ein Grunzen, dann schallendes Gelächter: „Na hören Sie“, sagte Netzer voller Selbstironie, „das hat doch schon zu meiner aktiven Zeit angefangen. Daran hat sich nichts geändert.“

An diesem Sonntag holt Netzer die Zukunft ein. Der wohl schillerndste Fußballer, den Deutschland je hatte, wird tatsächlich 70.

Wir haben es gut mit ihm gemeint und ihm im gleichen Interview eine Perspektive aufgezeigt: „Der VfB sucht einen Präsidenten. Hätten Sie Lust?“ Als Netzer sich mühsam von seinem Lachanfall erholt hatte, japste er nach Luft und sagte scheinbar empört: „Hören Sie mal, mein Leben ist völlig in Ordnung. Sie beginnen gerade, es in Unordnung zu bringen.“

Der Mann hat Humor. 13 Jahre lang hat er als ARD-Experte in pointierten Dialogen mit Gerhard Delling feinsinnige Spitzen platziert, bevorzugt gegen die Nationalmannschaft und gegen Delling selbst, dem er einmal mit gespielter Abscheu entgegnete: „Diese dumme Frage braucht eine dumme Antwort.“ Die Frotzeleien kamen so gut an, dass das Duo mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet wurde – zu Netzers Verwunderung: „Einer hat mal zu mir gesagt: Dein Fernseherfolg ist mir unbegreiflich. Du sitzt mit einer Steinbeißerfresse da, und die Leute mögen dich auch noch. Er hat recht.“

Das ist der Netzer, wie er leibt und lebt und lacht – am liebsten über sich selbst. „Ich nehme mich nicht besonders ernst. Und ich nehme mich gern selbst hoch“, hat er unseren Lesern verraten. Das kann sich nur einer leisten, der über den Dingen steht. Der sich und der Welt nichts mehr beweisen muss. Netzer war der erste Popstar der Bundesliga, ein Exot mit schulterlanger Mähne, gelbem Ferrari und umschwärmt von schönen Frauen. Ein wilder Hund.

Als Profi von Borussia Mönchengladbach gehörte ihm die Disco Lover’s Lane, er trat in der Comedyserie „Klimbim“ auf, feierte zuweilen in München bis in die Puppen und flog mit der Frühmaschine nach Düsseldorf, um rechtzeitig beim Training zu sein. In New York ist er mal nachts mit seinem Kumpel Berti Vogts die Feuerleiter im Hotel hinuntergestiegen und hat sich im Taxi zum Broadway fahren lassen. Mit seinem Ferrari hat er in Mönchengladbach mal eine Bushaltestelle zerlegt. Nach einer Vertragsverhandlung wollte Gladbachs Manager Helmut Grashoff auf sein vermeintlich großzügiges Angebot mit Champagner anstoßen. Netzer fuhr zum Supermarkt und kaufte den billigsten Sekt: „Mehr war es nicht wert.“

Mit Trainer Hennes Weisweiler, auch ein Dickkopf, hat er sich gezofft, bis sich beide nichts mehr zu sagen hatten – manchmal wochenlang. Berti Vogts musste sie immer wieder versöhnen. Legendärer Höhepunkt von Netzers Renitenz war das Pokalfinale 1973 gegen den 1. FC Köln. In der Verlängerung wechselte er sich selbst ein („Ich spiele jetzt“) und erzielte das Siegtor. Spätestens da galt er als Rebell und fühlte sich missverstanden: „Krach mit dem Trainer, Aufbegehren gegen die Obrigkeit und Autoritäten, das war bis dahin undenkbar. Das war revolutionär. Aber ich war gar kein politischer Mensch. Doch die 68er haben in mir einen gesehen, der ihre Ideale verkörpert.“

Nur in der Nationalmannschaft kam der Spielmacher viel zu selten (37-mal) zum Zuge, wenn man von der EM 1972 absieht, als er mit Franz Beckenbauer „Ramba-Zamba“ spielte und den Titel gewann. Ansonsten stand dem Ballzauberer, der so ungezwungen mit seiner Lauffaulheit kokettiert, der ehrgeizige Wolfgang Overath im Weg. 1974 führte der Kölner die deutsche Elf zum WM-Titel. Netzer kam im ganzen Turnier nur 21 Minuten zum Einsatz, ausgerechnet bei der Schmach gegen die DDR: „Man beleidigt mich, wenn man mich als Weltmeister bezeichnet.“

Gewonnen hat er trotzdem: mit Gladbach zwei deutsche und mit Real Madrid zwei spanische Meistertitel, den DFB-Pokal und zweimal die Wahl zum Fußballer des Jahres (1972, 1973). Später holte er als Manager Branko Zebec und Ernst Happel zwei Trainer zum Hamburger SV, von denen sie in der Hansestadt noch heute voller Ehrfurcht sprechen, wurde mit ihnen deutscher Meister und gewann 1983 den Europapokal.

Seine Frau Elvira, mit der er seit 33 Jahren verheiratet ist, lernte er in einem notlandenden Flugzeug kennen, die beiden haben eine Tochter und leben in Zürich, wo Netzer für die Sportagentur Infront mit Fußballrechten handelt und mit Milliarden jongliert – auch noch mit 70, getreu seinem Motto: „Man hat mich nie hundertprozentig zum Arbeiten gekriegt. Ich werde immer frei bleiben, so wie früher auf dem Platz.“

Wir sind auch so frei: Alles Gute nach Zürich!