Gotthilf Fischer Foto: dpa

Gotthilf Fischer kommt am Dienstag mit seinen Fischer-Chören in den Beethovensaal.

Stuttgart - Er ist quirlig, redselig, temperamentvoll, streitbar: Mit seinen 82 Jahren dient der wohl berühmteste Chordirigent der Welt immer noch als lebender Beweis für den sprichwörtlichen Jungbrunnen der Musik. Morgen um 19 Uhr kommt Gotthilf Fischer mit seinen Fischer-Chören in den Stuttgarter Beethovensaal.

Herr Fischer, Sie haben schon mit 14 Jahren im Internat einen Chor gegründet. Warum fanden Sie gerade das Singen attraktiv?

In der Lehrerbildungsanstalt in Esslingen, die zwischen 1942 und 1945 etwa 300 Schüler hatte, gab es einen Chor, der so scheußlich sang, dass ich beschloss, in meiner Klasse einen eigenen zu gründen. Wir hatten gleich einen Riesenerfolg - und ich hatte natürlich Knatsch mit dem Professor, der den großen Chor leitete. Das wurde auch nicht besser, als wir einen Schrank aufbrachen, weil wir wussten, dass in ihm auch Chorsätze aufbewahrt wurden. Das waren lauter Noten von jüdischen Komponisten, unter anderem von Felix Mendelssohn Bartholdy. Man wollte nicht, dass wir das singen, aber wir haben das trotzdem getan, weil das ganz große Musik war. Das mich damals fast den Posten gekostet.

Sie hatten keine musikalische Ausbildung.

Wir hatten daheim kein Harmonium, kein Klavier, und in der Volksschule gab es nicht mal einen Lehrer, der mit uns singen konnte. Es gab nur einen, der ganz schrecklich Geige spielte, der hat mich immer aus dem Zimmer geschickt, weil ich oft so lachen musste.

Aber wie kamen Sie dann zur Musik?

Das hat man in sich. Mein Vater hat in Deizisau, in dem Dorf, in dem ich aufwuchs, alles gemacht, was mit Musik zu tun hatte: Musikverein, Gesangsverein, Tanzstunde, Zitherverein. Er wurde damals belächelt.

Sie sind also in Deizisau in die Fußstapfen Ihres Vaters getreten.

Ja, aber der Grund dafür, dass der Chor mich dort gleich als Dirigenten engagierte, war einfach der, dass alle Männer, die sonst vielleicht für dieses Amt infrage gekommen wären, entweder gefallen waren oder in Kriegsgefangenschaft. Das war 1945. Da sagte man zu mir, Junge, du kannst doch Klavier spielen, also komm einfach mal. Als ich hinkam mit meinen 17 Jahren, saßen da lauter ältere Herren. Die sagten zu mir: Spiel doch mal dieses Lied da, das kannst du doch. Als ich das gemacht habe, sagten sie: Ja, und jetzt sing mal mit uns. Als ich das auch machte, sagten sie: Jetzt bist du unser Chorleiter. Das war der Einstieg.

Warum wollten dann immer mehr Chöre Sie als Dirigenten haben?

Das müssen Sie die Sänger fragen, aber die sind fast alle tot. Ich hab' die halt begeistert.

Was macht einen guten Chordirigenten aus?

Man muss gut hören können, und man muss ein Gefühl für die Musik haben.

Ist es ein großer Unterschied, ob man einen kleinen Chor dirigiert oder tausend Sänger?

Nein, es ist immer dasselbe. Ob da vier Mann im Quartett singen oder Tausende: Sie müssen nur zum Dirigenten schauen und nicht in die Noten. Wenn die Spannung zwischen den Sängern und mir nicht da ist, dann brauch' ich das nicht zu machen.

Haben Sie sich das rein Technische irgendwann mal vor dem Spiegel beigebracht?

Nein, das hat man doch. Manchmal muss man halt größere Bewegungen machen, bis man spürt: Jetzt hab' ich sie! Man muss die Sänger mitnehmen.

Was machen Laien besser als Profis?

Profis singen ihre Sachen oft perfekt runter, sind aber manchmal mit ihren Gedanken ganz woanders.

Sie haben eng mit dem SDR gearbeitet.

Ich hatte in meinen Konzerten immer das Rundfunk-Sinfonieorchester dabei, und nachdem man mich 1948 mit Sergiu Celibidache bekanntgemacht hatte, hat der mich oft eingeladen, auch bei seinen auswärtigen Konzerten dabei zu sein. Der Celi hat halt großes Zutrauen in mein Gehör gehabt. Beim Dirigieren hat er immer die Augen zugemacht, und manchmal hat er, obwohl das Orchester noch keinen Ton gespielt hatte, schon "Zu laut!" gerufen.

Die Solisten für Ihre Konzerte holten Sie aus dem Südfunk-Chor.

Ja, und mit Clytus Gottwald habe ich immer wieder sehr gut zusammengearbeitet. Er hatte es ja als Erster gewagt, eine Sendung über den noch unbekannten Gotthilf Fischer beim SDR zu machen, zwei Stunden! Den haben sie schier totgeprügelt. Ich sage Ihnen: Die Leute, die zu lange studiert haben, die sind gefährlich!

Wie kam es zum Zusammenschluss von so vielen Ensembles zu den Fischer-Chören?

Ganz einfach: Ich hatte sieben Chöre, ich heiße Fischer.

Wie oft proben Sie?

Ich bin jeden Tag woanders - bis heute. Montag im Ludwigsburger Forum, das ist ein Chor mit 120 Aktiven, Dienstag bauen wir seit einem knappen Jahr einen Chor in Stuttgart auf, Mittwoch Winnenden, Donnerstag Bönnigheim, Freitag Fellbach-Schmiden, und am Wochenende sind Konzerte.

Haben Sie schon einmal jemandem aus dem Chor rausgeschmissen, weil er schlecht gesungen hat oder total unmusikalisch war?

Nein, aber ich hab's immer hingekriegt, dass solche Menschen leiser singen. Und wir brauchen ja auch immer welche, die das Klavier wegschieben, wir brauchen Leute, die Noten austeilen . . .

Ich habe ein Bild von Ihnen gefunden, darauf sieht man Sie als 78-Jährigen bei der Loveparade in Berlin - hoch auf dem gelben Wagen.

(Lacht) Das war Schönste, was ich je erlebt hab'! Ich wurde damals vom SFB als Moderator engagiert, sollte erzählen, was meine Meinung zu dieser Veranstaltung ist. Plötzlich fand ich mich auf einem Wagen, da hab' ich CDs reingehauen, aber ziemlich auf Rhythmus, alles hat gerufen "Drauf!" und "Gib ihm!", und die Presse hatte ihr Thema. Im Flugzeug lese ich hinterher, man hätte mir Ecstasy ins Glas getan - ich hatte aber überhaupt nie ein Glas in der Hand. Das hatten die sich einfach ausgedacht. Als das Flugzeug gelandet war, standen da lauter Journalisten. Da hab' ich halt mitgespielt und gesagt: Klar, ich sehe jetzt auf der rechten Seite Affen, Indianer und Schlangen, und links sind Papageien. In einem Symposium später wurde dann ernsthaft die Frage diskutiert, ob man unter dem Einfluss von Ecstasy derartige Bilder sehen könne.

Können Sie mit Techno etwas anfangen?

Nein, gar nicht. Wenn sich der Bauch dreht und das Gehör Schaden nimmt, dann ist das keine Musik mehr. Das sollte man verbieten.

Warum singen so viele Menschen in Chören?

Ich erzähl' Ihnen mal was: Da kommt ein älterer Herr in meinen Chor, so 60, 70 Jahre ist er alt, er hat eine wunderbare Stimme, ist immer der Erste, und als ich ihn mal frage: Warum sind sie immer der Erste in der Singstund', und warum haben Sie so eine Freude daran? Da antwortet er: Lieber Herr Fischer, ich habe vier Söhne im Krieg verloren, wenn ich Sie nicht gehabt hätte, dann wäre mein Leben beendet gewesen. So viel kann Singen im Chor bedeuten. Gott hat uns die Musik geschenkt, sie ist keine Erfindung der Menschen, wir machen's nur kaputt.

Kann eigentlich jeder singen?

Na sicher. Und es ist es eine Gnade, wenn einer außerdem noch musikalisch ist.

An der Staatsoper Stuttgart haben Sie einmal ohne Probe Mozarts "Zauberflöte" dirigiert.

Der Intendant Walter Erich Schäfer hat an mich geglaubt, und ich sag' Ihnen: Diese heiklen Bläserakkorde in der Ouvertüre standen wie eine Eins. Das Publikum war begeistert.

Welche Dirigenten haben Sie geschätzt?

Ich hab' all die Alten noch erlebt: Furtwängler, Knappertsbusch, Böhm. Von ihnen hab' ich mir vieles abgeguckt. Und Leonard Bernstein hat mich oft angerufen, wenn er in Hamburg war: Er wollte, dass ich bei seinen Proben und Konzerten dabei bin.

Liegt der Reiz beim Dirigieren auch im Gefühl der Macht?

Nein.

Aber es ist doch toll, wenn Sie vor 1000 Menschen ein kleines Zeichen machen, und sofort reagieren alle.

Ja, aber darauf ist man nicht stolz.

Ich rede nicht von Stolz, sondern von Genuss.

Nein. Ich bin nur dankbar, wenn's gut war. Und dann bin ich ganz leise. Das ist ein Dienen. Da braucht man sich nix einzubilden.

Was ist beim Singen für die Menschen anders als beim Instrumentalspiel?

Ein Instrumentalist, der seinen Part mitsingt, spielt doppelt so schön. Wenn er das Singen dann noch übertragen kann auf seinen Bogen, dann ist er vollendet.

Haben Sie eine Botschaft?

Mehrere. Eine heißt: Sing, wenn du nicht mehr weiterweißt. Eine andere, globalere: Ich wünsche Frieden für alle Welt. Die Fischer-Chöre haben in vielen Ländern der Welt 20 Meter hohe Weltfriedenskreuze errichtet. Wir bauen auch Straßen der Lieder, bei denen alle 100, 200 Meter eine Liedstation ist: Da wandern dann die Leute entlang, bleiben stehen und singen.

Gibt es heute noch neue Volkslieder?

Jedes Lied ist zunächst mal eine komponierte Melodie, sonst gar nichts. Wenn sie lange gespielt und gesungen wird, ist sie ein Evergreen. Und wenn sie von den Menschen angenommen wurde, ist sie ein Volkslied geworden. Man kann also kein Volkslied komponieren, man kann nur eine Melodie erfinden, die ein Volkslied wird.

Haben Sie ein Lieblingslied?

"Stille Nacht" mit seinen bescheidenen anderthalb Harmonien, das ist für mich das schönste Lied der Welt. Deshalb ist es für mich der größte Traum, dass sich einmal alle Sender der Welt zusammenschließen und zur selben Zeit "Stille Nacht" senden. Das wäre gewaltig. Ich würde das auch dirigieren.

Wie stehen Sie zu "Hitparaden der Volksmusik"? Zur sogenannten volkstümlichen Musik?

Das ist eine Sauerei. Volkstümlich, volksdümmlich. Nix wie Krampf. Volksmusik ist das, was vom Volk gesungen und musiziert wird. Alles andere sind konstruierte Gags.

Sie komponieren auch: Vor Jimmy Carter haben Sie Ihre Friedensmesse aufgeführt, und sogar eine Oper haben Sie geschrieben . . .

Die Oper "Schicksal" ist aber ein Vermächtnis. Sie liegt irgendwo in den Archiven der Stuttgarter Staatsoper und wird erst ausgepackt, wenn es mich nicht mehr gibt. Ich lasse mich nicht totschlagen, solange ich lebe.

Worum geht es denn in diesem Stück?

Ich beschreibe mal eine Szene. Auf dem Soldatenfriedhof von Montecassino in Italien stehen 500 Menschen hinter ebenso vielen Grabsteinen. Das Bild soll sagen: Wenn dieser idiotische Krieg nicht gewesen wäre, dann stünden hier Menschen, keine Grabsteine. In meiner Oper geht es um die Dummheit der Menschen. Einmal habe ich in der Liederhalle ein Stück aus "Schicksal" aufgeführt, in dem es drunter und drüber geht: Da fahren Panzer über den Friedhof. Das wird ein sinnliches Durcheinander, das in einem Orkan endet wie in einem Weltuntergang.

Wie lange machen Sie noch weiter?

Mein großer Wunsch ist es, dirigierend vom Podest zu fallen, und das war's dann. Wenn ich weiß, wann's passiert, lasse ich vorher den Sarg hinstellen.

Und dann hören wir hinterher die Oper.

Nur wenn Sie mir Ihre Kritik in den Himmel nachschicken. Ich schreibe Ihnen dann auch einen Leserbrief.