Seine Lippen formen stumm die Melodien, die seine Hände den sechs Saiten entlocken: John Scofield Foto: dpa

Wer nicht gewusst hätte, dass hier lauter Country-Nummern interpretiert werden, würde annehmen, das alles sei astreiner ­moderner Jazz: Der Gitarrist John Scofield hat im Theaterhaus Country -Hits wie „Wayfaring Stranger“, „Faded Love“ und „Jolene“ interpretiert mit raffiniert aufgefächerten Harmonien.

Stuttgart - John Scofield hat sich bei seinem aktuellen Projekt beim Titel von Cormac McCarthy Roman „No Country For Old Men“ bedient, den die Coen-Brüdern verfilmt haben – aber augenzwinkernd das „No“ weggelassen. Als die Leute am Freitag im ausverkauften Saal T2 des Theaterhauses das Alter des weltberühmten Jazz-Gitarristen und das des E-Bassisten Steve Swallow schätzen sollen – sie sind 64 und 75 Jahre alt – fragt Scofield, warum wohl das in diesen Tagen erscheinende Album gerade diesen Titel trägt – und gibt sogleich die Antwort: „Schauen Sie sich mal selber an!“ Damit hat er die Lacher auf seiner Seite, auch die der jüngeren Besucher, deren dunkle Haare das „Silbermeer“ älterer Jazzfreunde melieren.

Wer nicht gewusst hätte, dass hier lauter Country-Nummern interpretiert werden, würde annehmen, das alles sei astreiner moderner Jazz. Unentwegt vorwärtstreibender, raffiniert die Harmonien auffächernder Jazz mit der melodiös gespielten semiakustischen E-Gitarre von Sco, wie ihn seine Band-Kollegen nennen. Der glänzt als spontan komponierender Improvisator und findet im lyrischen Spiel Swallows eine warme, tiefe Gegenstimme.

Bill Stewart am Schlagzeug, der beim Solo dröhnt wie ein vorüberdonnernder Güterzug, sorgt mit starken Grooves für jede Menge Druck, während der junge Keyboarder Gerald Clayton, Sohn des Bassisten John Clayton, die Hammond-Orgel stöhnen und jubilieren lässt und dann zum Klavier wechselt, um mit seinem rhythmisch interessanten Tastenspiel Scofield zu beflügeln.

Scofiled spricht von einer „Maiden Voyage“, einer musikalischen Jungfernfahrt

Der hat mit seiner Ibanez einen vollen, leicht verzerrten Gitarren-Sound, der durch die Legato-Spielweise wunderbar fließt. Richtungsweisend für viele Jazz-Gitarristen auf der ganzen Welt ist das charakteristische Gegeneinanderstellen von tonartnahem und tonartfremden Material, ohne dass je die Singbarkeit darunter leiden würde.

Seiner alten Liebe widmet John Scofield sein aktuelles Projekt: der amerikanischen Country-Musik. Die ging Anfang des 20. Jahrhunderts aus traditionellen Elementen der Volksmusik europäischer Einwanderer hervor und weist bis heute immer wieder neue Stilvarianten auf. Mit Blick auf die Lieder, die das Quartett im Theaterhaus als Weltpremiere vorstellt, spricht Scofield in Anlehnung an einen bekannten Herbie-Hancock-Titel von „Maiden Voyage“, einer musikalischen Jungfernfahrt. Und die Country-Songs klingen im neuen Jazzgewand frisch, klischeefrei und spannend.

Ist es für Jazzer, könnte man fragen, nicht peinlich, so eine simple Musik wie Country zu spielen? Ganz und gar nicht. Louis Armstrong hat es mit Johnny Cash bei „Blue Yodel“ vorgemacht, Saxofonist Sonny Rollins hat schon 1957 „I’m An Old Cowhand“ gespielt, und viele weitere sind gefolgt; etwa Scofields Gitarrenkollege Bill Frisell („Nashville“), um nur einen zu nennen.

Ob stockkonservative Country-Fans Scofields Interpretationen goutieren würden, darf bezweifelt werden

Auf das alte Volkslied „Wayfaring Stranger“ mit intensiven Gospel-Anklängen folgt der Western-Song „Faded Love“, den Elvis einst schmachtend gesungen hat, und „Jolene“, das bekannteste Lied der Country-Sängerin Dolly Parton. Was für einen tollen Gitarren-Sound hat Scofield, „der alte Mann“! Er spielt wie ein junger Gott. Wenn er improvisiert, geht er ein wenig ins Hohlkreuz, beugt sich dann nach vorne, seine Lippen öffnen sich und formen stumm die Melodien, die seine Hände den sechs Saiten entlocken, ohne dass er auch nur einmal aufs Griffbrett schauen würde.

Ob stockkonservative Country-Fans aus Tennessee oder Texas diese von ihm interpretierten Songs auch goutieren würden, darf bezweifelt werden. Musiker mit gebrochenen Biografien dagegen wie Hank Williams, Johnny Cash oder Willie Nelson wären bestimmt begeistert, etwa wenn sie die flotte Version von „Red River Valley“ oder James Taylors warm und voll klingenden „Bartender’s Blues“ hören würden. Bei „So Lonesome I Could Cry“ allerdings scheiden sich die Geister. Da ist das Thema kaum zu erkennen und wird, wenn es einmal kurz auftaucht, vom Strom dahinfließender Töne gleich wieder mitgerissen. Ein starkes Stück Jazz. Mit dem anrührenden „Just A Girl I Used To Know“ klingt dieses schöne Konzert aus, die Stuttgarter Krönung des diesjährigen Esslinger Jazzfestivals.