Die Schüler sind begeistert - darüber freuen sich auch Prokids-Gründer Joachim Spitz, Vivida-Mitarbeiterin Susanne Riegger und Rektorin Katya Cankovski (hinten von links). Foto: Cornelia Spitz

Gewaltprävention schon an der Grundschule? Für Katya Cankovski steht dahinter kein Frage-, sondern ein dickes Ausrufezeichen. Ja! Gewaltprävention an der Grundschule, denn: „Wir brauchen ganz dringend Unterstützung.“

Die neue Rektorin der Schwenninger Gartenschule brennt für ihre Schule und ihre Schüler.

 

„Wir haben ganz, ganz tolle Kinder – und ein tolles Team, da lasse ich gar nichts drüber kommen“, betont sie. Und doch hat die 40-Jährige keine rosarote Brille auf, wenn sie auf ihre Schule blickt.

„Wir haben 83 Prozent Migrationsanteil“, damit gehen enorme Herausforderungen einher, erklärt sie – und manche werden tagtäglich auf dem Schulhof sichtbar. „Das können wir nicht wegreden.“

Wo es ums Überleben geht

Als Katya Cankovski zum Gespräch in ihr Büro kommt, schwappt mit ihr der ganz normale Schulalltag herein. Sie erzählt von zwei erst neulich aufgenommenen Kindern – „ohne Schulranzen, ohne irgendwas“ – und dem Material, das sie nun für sie zusammengetragen hat, inklusive dem versprochenen Kuscheltier, da das einzige Stofftier eines der Kinder kaputtgegangen ist. Rasch wird klar: Lehrer oder gar Rektor zu sein, das bedeutet heute so viel mehr als nur Unterrichtseinheiten abzuspulen. Die Schule wird beispielsweise von vielen Kindern aus arabischen Familien besucht. Geflüchtet aus Syrien oder Afghanistan mit drei Jahren, die erste Zeit im Zelt in Camps für Flüchtlinge verbracht, und schnell gelernt: „Ich muss meine Ellbogen einsetzen, um zurechtzukommen, zu überleben – und ich habe auch nicht die Eltern hinter mir, weil die oft entweder tot oder traumatisiert sind.“

Die Schulleiterin zeichnet das Bild einer Großfamilie, fünf Kinder, das älteste elf Jahre alt und zum Kümmerer für die jüngeren Geschwister geworden, die Mutter erst Anfang 20 und schon wieder hochschwanger mit dem sechsten Kind. „Die wissen nicht, wie das System Schule funktioniert – erst Recht nicht in Deutschland.“

Mangel gibt es eben doch

Rasch wird klar: Hier greift das Lamento, dass hierzulande keiner Mangel leiden muss und das deutsche Sozialsystem und sein Bürgergeld alle auffangen, nur teilweise. Und genauso deutlich wird beim Anblick der erst seit diesem Schuljahr amtierenden Rektorin und „ihren“ Kindern, dass es stimmt, was sie seither zu vermitteln versucht: „Die Schule hat einen gewissen Ruf, aber der ist nicht berechtigt.“

Sie schwärmt: „Das sind so tolle Kinder, ganz arg warm und herzlich – wenn ich morgens durch die Schule laufe, habe ich auf einen Streich fünf an mir hängen.“ Umso drängender war ihr Bedürfnis, die Probleme in den Griff zu bekommen und sich dafür Hilfe zu holen. Denn: Auf dem Schulhof habe sich bisweilen eine ungute Dynamik entwickelt. Sie stellte ein erhöhtes Gewaltpotenzial fest. Jungs, die sich zusammenrotteten, andere Kinder einschüchterten, die wiederum mit der Situation nicht umzugehen wussten. Und beide Seiten bräuchten Unterstützung.

Die Gründe liegen für die Schulleiterin auf der Hand und seien auch kultureller Natur. Was es auf dem Papier nicht geben dürfe, sei hier und da eben Realität: Männer, die nach arabischem Vorbild mit mehreren Frauen Familien gründeten – und Kinder, die demzufolge keine wirkliche Vaterfigur erlebten und sich an älteren Geschwistern orientierten, die nicht sozialisiert seien.

„Kein Kind verloren geben“

Für Cankovski stand fest: „Wir müssen intervenieren, jetzt aktiv werden.“ Eine AG zur Gewaltprävention gibt es an der Schule bereits, aber das reichte nicht. Cankovski suchte Kontakt zu Joachim Spitz und seiner Prokids-Stiftung, die mit dem Projekt „Fight for your life“ enorme Erfolge erzielt hat.

„Genau das ist es! Wir können kein Kind verloren geben“, finde Joachim Spitz. Foto: Cornelia Spitz

Und sie rannte offene Türen ein bei Prokids-Gründer Joachim Spitz: „Genau das ist es! Wir können kein Kind verloren geben.“ Und noch an anderer Stelle wurde der Hilferuf wohlwollend vernommen: bei der Vivida. Deren Referentin im Bereich Gesundheitsförderung, Susanne Riegger, weiß, wie wertvoll Gewaltprävention und das Kümmern um mentale und körperliche Gesundheit sind. Studien belegten die Zunahme psychischer Probleme bei Kindern, Leistungsdruck, kulturelle Probleme, selbst Corona wirkten sich aus. „Friss oder stirb“, das verkrafte nicht jedes Kind, sagt sie und freut sich, finanziell mithelfen zu können.

Regeln und Rituale

Gemeinsam mit der Schule strickten alle das Konzept: Erfahrene Trainer widmen sich den Kindern aus drei vierten Klassen mit je 28 Schülern und packen das Problem an der Wurzel. Mit „Tätern“ wird in einer separaten Gruppe zunächst über Gewalt, Regeln, Rituale und ein gutes Miteinander gesprochen. Machen sie mit, dürfen sie später gemeinsam mit den Schulkameraden am Training teilnehmen: Dann dreht sich alles um Körpersprache und -beherrschung, um Selbstvertrauen, darum, sich ohne Fäuste zu wehren und Deeskalationsstrategien. Drei solcher Vormittage finden im November und Dezember statt, an welchen jede der Klassen an sich arbeitet. Eine Klasse hat die erste Einheit hinter sich.

Beim Besuch unserer Redaktion sprudelt es jetzt begeistert aus den Kindern heraus: „Wir haben etwas über Gewalt und das Boxen gelernt“ sagt ein Mädchen. „Was Gewalt ist und wo man Gewalt anwenden darf“, erklärt ein Junge. „Ach, und wo darf man das?“, wird er prompt gefragt. Er grinst beschämt, „nur, wenn der Trainer einen auffordert, beim Boxen zum Beispiel“. Apropos Boxen, da war doch was: Fight for your life heißt nämlich das Projekt, das sich an die drei Interventionen anschließt und in dem ab Januar die Energie auf Dauer in gute Bahnen gelenkt werden kann. Und vielleicht werden Cankovskis Pläne wahr und es steht an der Gartenschule mittelfristig sogar schon ab der zweiten Klasse Gewaltprävention auf dem Stundenplan – „wir sind dabei“, sichert Joachim Spitz prompt Unterstützung zu und hat bereits viele Ideen. Ähnlich wie mit dem Boxen funktioniere das auch mit anderen Sportarten oder sogar mit Musik. Wie Gewaltprävention funktioniert, davon kann man bei Prokids schließlich ein Liedchen singen.