Der Geschäftsführer der AoK Schwarzwald-Baar-Heuberg Klaus Herrmann (1.v.l.), Projektleiterin im Gesundheitsamt Rottweil Anabel Dobaj und Landrat Wolf-Rüdiger Michel beschließen die Umsetzung des Bewegungspasses in Kindertagesstätten im Kreis Rottweil. Foto: Kuster

Kinder weisen immer mehr Defizite in den Bereichen Motorik, Sprache und soziale Kontakte auf. Um dem entgegenzuwirken, führen der Landkreis Rottweil und die AOK Schwarzwald-Baar-Heuberg den Bewegungspass ein.

Kreis Rottweil - Wer sich wenig bewegt (und sich ungesund ernährt), der nimmt zu. Das gilt für Erwachsene wie Kinder gleichermaßen. Bei Letzteren gaben die Zahlen schon vor der Coronapandemie ein wenig Anlass zur Sorge: Rund ein Viertel der Kinder und Jugendlichen im Kreis Rottweil befänden sich wegen Übergewichts in ärztlicher Behandlung, so Landrat Wolf-Rüdiger Michel. Ebenso viele hätten einen Förderbedarf in Sachen Motorik.

Spielerische Förderung der Kinder

"Viele Kinder können nicht mal richtig rückwärts laufen", schildert Michel bei einer Pressekonferenz im großen Sitzungssaal des Landratsamtes. Deswegen führt der Landkreis Rottweil in Kooperation mit der AOK Schwarzwald-Baar-Heuberg den Bewegungspass ein, beginnend in 120 Kindertagesstätten.

Über eine Reihe von Übungen sollen die Kinder spielerisch an verschiedene Bewegungsanläufe herangeführt werden, wie zum Beispiel laufen, springen, klettern oder Ball werfen. Dazu erhalten die Erzieher verschiedene Materialien zur Ausgestaltung der Übung. Die Kinder selbst erhalten eine "Bewegungstasche", unter anderem mit dem Pass, bunten Dino-Stickern und vielem mehr.

Schlange, Känguru und Eichhörnchen

Insgesamt 32 Übungen sind in verschiedene Kategorien eingeteilt, die nach Tierarten benannt sind: Bei der Schlange steht zum Beispiel der Slalom-Lauf im Vordergrund, beim Känguru müssen verschiedene Hüpfer absolviert werden, und beim Eichhörnchen ist Balancieren gefragt.

In Spielstunden können diese "eingeübt" werden. Alle zwei bis drei Monate können sich die Kinder in einer besonderen Spielstunde eine der Tier-Kategorien aussuchen und die Übungen vorführen. Sind sie erfolgreich, können sie sich einen Sticker in den Bewegungspass kleben.

Auch die Eltern werden beispielsweise über Infoveranstaltungen und Elternabende aktiv miteinbezogen, so Scherer. Dort können sie sich zum Beispiel zum Thema Ernährung informieren.

Springend, hüpfend, laufend die Welt erobern

"Wir wollen das bewegte Aufwachsen der Kinder unterstützen", betont Michel. Früher hätten die Kinder vor allem spielend die Welt "erobert", heute sei das schon weniger der Fall. Da sei das "Daddeln" vor dem Bildschirm interessanter als das spazieren oder laufen, so Michel. Und die Beschränkungen der Corona-Pandemie hätten auch ihren Teil zur Gesamtsituation beigetragen.

Hinzu kämen auch weniger "reale Sozialkontakte", ergänzt Marco Sandmann. Gemeinsam mit Anabei Dopaj leitet er im Gesundheitsamt die Umsetzung des Projektes. Von Vorteil sei hierbei, dass der Landkreis Rottweil als einer von zwei flächendeckend wichtige Daten aus den Einschulungsuntersuchungen zwischen 2015 und 2019 erheben konnte.

Für die vergangenen drei Jahre lägen zwar noch keine Daten vor, aber: "Kinder und Jugendärzte gehen davon aus, dass die Defizite zugenommen haben", so Sandmann.

Von der Idee bis zur Umsetzung

Die Idee des Bewegungspasses wurde in Stuttgart im Amt für Sport und Bewegung entwickelt, wie Anabel Dobaj erklärt. Die Umsetzung erfolge in vier Arbeitspaketen: Erstens: Multiplikatoren, das heißt die Ausbildung und Schulung pädagogischer Fackkräfte. Zweitens: Netzwerkaufbau. "Zur Umsetzung des Bewegungspasses haben wir das Netzwerk Motorik gegründet", so Dobaj.

Mit einer Infoveranstaltung Ende Juli wurde dem dritten Schritt der Implementierung Rechnung getragen. Bis Mitte August konnten laut Dobaj bereits 34 Fachkräfte erreicht und für das Projekt gewonnen werden. Zum Schluss folgt eine Evaluation des Bewegungspasses. "Die Einführungsphase wird durch eine Bachelorarbeit der Hochschule Furtwangen wissenschaftlich begleitet, mit Fokus auf den ländlichen Raum", erklärt Dobaj.

Damit aus "greifen" irgendwann "begreifen" wird

Auch der AOK Schwarzwald-Baar-Heuberg liege die Umsetzung des Bewegungspasses sehr am Herzen, wie Geschäftsführer Klaus Herrmann schildert: Laut einer Studie des Robert-Koch-Instituts bewegen sich rund 1,5 Millionen Kinder zwischen drei und zehn Jahren zu wenig. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfehle etwa drei Stunden Bewegung pro Tag – in Deutschland käme die Mehrheit der Kinder auf nicht einmal eine Stunde. "Und wir sind da leider keine Ausnahme", so Herrmann.

"Wir möchten möglichst früh mit dem Angebot starten, um eine entsprechende Grundlage zu legen", so Herrmann. Und da Kindergartenkinder besonders neugierig seien, eignen sich Kindertagesstätten besonders zum Start des Programms. Man denke aber bereits darüber nach, das Programm unter anderem auf Sportvereine auszuweiten.

Sandmann ergänzt, dass man zudem wichtige Grundsteine zu Ernährung und Entwicklung legen könne. Schließlich sei regelmäßige Bewegung auch gut für das Gehirn: "Aus ›greifen‹ wird zum Beispiel irgendwann ›begreifen‹ und aus ›fassen‹ irgendwann ›erfassen‹."