Bäcker Michel Hartiger Foto: Schreiber

Vom Elsass aus haben Lebkuchen und Printen ihren Siegeszug durch Frankreich angetreten. Wer sich auf Weihnachten einstimmen will, ist in Gertwiller genau richtig.

Gertwiller - Touristen, die durch den Ortskern von Gertwiller schlendern, bleiben regelmäßig stehen. Man muss einfach einen Blick in die alten Innenhöfe werfen, die sich hinter den Fachwerkhäusern verstecken. Aushänge preisen die Literflasche Sylvaner für weniger als vier Euro an. Solche Orte gibt es Dutzende im Elsass. Aber hier merkt man auf Schritt und Tritt, dass Gertwiller anders ist. In der Luft liegt zarter Kardamom-Duft. Mal haucht er einem Orangennoten in die Nase, dann setzt er mit scharfem Ingwer zur Offensive an. Wer sich durch Gertwiller schnuppert, landet irgendwann garantiert am Knusperhäuschen von Lips Lebkuchen: Nüsse und Rosinen kleben an der Wand, die Fensterläden lächeln in Spekulatius-Optik, und die Dachrinnen in bunten Zuckerstangen-Farben möchte man am liebsten anknabbern. Die Hexe aus „Hänsel und Gretel“ würde vor Neid zerplatzen.

„Willkommen im Labkueche Hiesel“ hat Michel Hartiger auf die Fassade gepinselt. Jeden Tag steht der 61-Jährige drinnen an der Rührschüssel, mischt Zutaten, stanzt Figuren aus dem Teig, bemalt, verpackt und verkauft würzige Nikoläuse, Zimtsterne, Honigbrot, Lebkuchen und Printen. Fast hundert verschiedene Produkte hat er im Angebot. Er verwendet weder Butter noch Eier, beschränkt sich auf Honig, Zucker, Mehl, Zimt und die fünf gängigsten Gewürze. Das war schon im 18. Jahrhundert so, als die Firma gegründet wurde, und soll auch so bleiben. „Die Menschen lieben den Geschmack aus ihrer Kindheit“, ist er überzeugt. Auch die Verpackungen im 60er-Jahre-Stil mit vergilbten Folien und Weihnachtsmännern im Retro-Look gehören zum Geschäftsmodell.

In der Backstube drängen sich Touristen aus ganz Europa

Das Geschäft läuft gut, 70 Tonnen Lebkuchen streut Hartiger jährlich unters Volk, und selbst an Ostern und im Sommer purzeln braune Nikoläuse in die durchsichtigen Verpackungen. Aber in der Vorweihnachtszeit rennen ihm die Touristen die Bude ein. Im Laden neben der Backstube drängen sich Lebkuchen-Fans aus ganz Europa. Kegelvereine machen ihren Ausflug nach Gertwiller, Oldtimer-Clubs fahren mit Rolls-Royce und Bentley vor. Wenn der Kofferraum zu klein ist, werden die Honigbrot-Kartons kurzerhand auf dem Rücksitz gestapelt. Ein Ehepaar lässt sich die Ware mit dem Sackkarren zum Wagen bringen. „Es muss ja bis Ostern reichen.“

Im 19. Jahrhundert pusteten neun Gertwiller Betriebe den Duft von „pain d’èpices“ (Gewürzbrot) in die Elsässer Luft. Das Städtchen ist zwar immer noch Lebkuchen-Produzent Nummer eins in Frankreich, neun von zehn Nikolaus-Päckchen stammen aus Gertwiller. Die Elsässer haben Pfefferkuchen und Co. in Paris und Marseille salonfähig gemacht. Gertwiller Lebkuchen werden sogar mit teurer Paté de Foie gras (Gänseleberpastete) bestrichen. Aber es ist halt nicht mehr wie früher, als Hartiger seinen Metzgerberuf aufgeben musste, weil händeringend nach Lebkuchen-Bäckern gesucht wurde. Irgendwann gingen nicht mehr die Arbeiter aus, sondern die Arbeit. Ein Unternehmen nach dem anderen musste dichtmachen. Hartiger hielt auch in den schweren Zeiten durch und profitiert nun vom neu erweckten Hunger nach Weihnachtsgebäck aus der guten alten Zeit. Für die Nostalgiker hat Hartiger im Dachgeschoss seiner Firma ein Museum eröffnet mit Ausstechern, Töpfen und Nikolausbildchen aus 200 Jahren Lebkuchen-Geschichte. „Viele Besucher benehmen sich hier wie kleine Kinder und wollen mit den Sachen spielen.“

Die Deutschen reisen ihrem eigenen Kulturgut hinterher

Diese Touristen sind am Ortsende von Gertwiller vermutlich besser aufgehoben. Dort steht ein Museum der anderen Art. Ein Lebkuchen-Männchen führt die Besucher virtuell durch die Räume. In der Hochglanzküche kann man auf Bildschirmen Rezepte abrufen. Anschließend begegnen einem Hänsel und Gretel, während im Geschenkeraum unablässig künstlicher Schnee auf Plastiktannen rieselt. Gebaut wurde das Museum von der Firma Fortwenger, deren Produktionshallen gleich daneben stehen. Gerard Risch hat aus der kleinen Lebkuchen-Bäckerei seiner Schwiegereltern ein Unternehmen mit 60 Mitarbeitern geformt. Die vollautomatischen Backlinien spucken bis zu vier Tonnen Pfefferkuchen oder Würzbrot pro Tag aus.

Was Risch in seine Vermarktungsstrategie noch gar nicht einbezogen hat, ist Carl Fortwenger, der als junger Mann nach Deutschland ging, das Lebkuchen-Handwerk lernte und in Gertwiller 1787 das erste Geschäft für Weihnachtsgebäck gründete. „Vielleicht sollten wir ihm ein Denkmal setzen“, scherzt Risch. Schließlich würden kulinarische Traditionen und Genüsse eher den Weg von Frankreich nach Deutschland nehmen. Nun aber reisen die Deutschen ihrem kulinarischen Kulturgut hinterher. Die Busse auf dem Parkplatz haben alle ein D-Kennzeichen. Risch hat Verträge mit Reisekonzernen, die ihre Gäste von einem Weihnachtsmarkt zum nächsten und auch in die Showräume von Fortwenger schicken. Dort stehen Frauen hinter Glas, stanzen, formen und pinseln. Über einen Bildschirm flimmert die Firmengeschichte. Dann geht es in den Laden, den viele mit schweren Taschen wieder verlassen. Anschließend sieht man Touristen durch den Ort schlendern und ihre Lebkuchen-Tüten aufreißen. Gemeindearbeiter hängen unterdessen die Beleuchtung auf. Die Truppe ist zwar ein bisschen spät dran, aber in Gertwiller ist ja sowieso das ganze Jahr über Weihnachten.