Ein Wachturm steht an einem Zaun im ehemaligen KZ Auschwitz-Birkenau. Foto: dpa

Ein 94-Jähriger aus Gerlingen sitzt im Justizvollzugskrankenhaus Hohenasperg in Untersuchungshaft – er soll als SS-Wachmann im KZ Auschwitz gewesen sein.

Ein 94-Jähriger aus Gerlingen sitzt im Justizvollzugskrankenhaus Hohenasperg in Untersuchungshaft – er soll als SS-Wachmann im KZ Auschwitz gewesen sein .

Gerlingen/Ludwigsburg - Das stark verwitterte Namensschild am Briefkasten blättert fast ab. Es zeugt davon, wie lange Richard Jelanek (Name von der Redaktion geändert) schon in dem unscheinbaren Dreifamilienhaus im Gerlinger Stadtteil Gehenbühl lebt, unauffällig, unbehelligt. Am Mittwoch vergangener Woche war es damit schlagartig vorbei. Polizeibeamte, Staatsanwälte und Ermittler des Landeskriminalamts fuhren vor, durchsuchten die Wohnung, beschlagnahmten Unterlagen und Dokumente. In Gegenwart eines Amtsarztes führten sie den 94-Jährigen dem Haftrichter vor. Der erließ Haftbefehl. Seither sitzt Jelanek im Justizvollzugskrankenhaus Hohenasperg in Untersuchungshaft – und wartet darauf, ob gegen ihn Anklage erhoben wird.

Vor mehr als 69 Jahren soll Jelanek im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz als Wachmann im Einsatz gewesen sein – nun muss sich der 94-Jährige aus Gerlingen im Kreis Ludwigsburg womöglich vor Gericht für sein Tun verantworten. Ihm droht eine lebenslange Haftstrafe.

Knapp zwei Jahre lang – 1943 und 1944 – soll der im damals tschechoslowakischen Pressburg (heute Bratislava, die Hauptstadt der Slowakei) geborene SS-Mann in der Menschenvernichtungsfabrik der Nazis eingesetzt gewesen sein. In Auschwitz, dem größten nationalsozialistischen Todeslager, wurden mindestens 1,1 Millionen Menschen, darunter eine Million Juden, ermordet. Soldaten der Roten Armee hatten das Lager am 27. Januar 1945 befreit. Was sich damals zugetragen hat, ist unstrittig. Die Juristen müssen nun aber darüber befinden, wem welche Schuld zukommt und ob der Greis aus Gerlingen vor Gericht kommt.

Beihilfe zum Mord werfen die Ermittler dem Mann vor, der zeitgleich mit einem 92-Jährigen aus Ilvesheim im Rhein-Neckar-Kreis und einem 88-Jährigen aus Wiernsheim im Enzkreis verhaftet wurde. Die Beschuldigten stünden im Verdacht, „in der Zeit ihres dortigen Einsatzes an der Tötung nach Auschwitz deportierter oder dort inhaftierter Menschen beteiligt gewesen zu sein.“ Der 88-Jährige wurde inzwischen wieder freigelassen, weil er zum Tatzeitpunkt noch Jugendlicher gewesen sei, was einen Haftgrund nicht rechtfertige, wie es die Staatsanwaltschaft begründet.

Entscheidend für eine Anklage gegen den 94-Jährigen sei auch, „in welcher Funktion er dort gearbeitet hat“, sagte eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft Stuttgart unserer Zeitung. Aufseher sei er nie gewesen, zitiert ihn sein Anwalt Reinhard Engel. Bei der Staatsanwaltschaft hat Jelanek bisher keine Angaben zu den Vorwürfen gemacht. Die Staatsanwaltschaft muss nun prüfen, wann die Verdächtigen in Auschwitz waren, ob und, wenn ja, welcher Wachkompanie sie angehörten und wie viele Menschen in dem relevanten Zeitraum umgebracht wurden.

Die Ermittlungen gehen auf die Recherchen der Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg zurück. Die Fahnder unter ihrem Leiter Kurt Schrimm hatten Ende November 30 entsprechende Fälle an Anklagebehörden in mehreren Bundesländern abgegeben. Oberstaatsanwalt Schrimm begründet die verstärkten Ermittlungen mit einer „neuen Rechtsauffassung“ seit dem Prozess gegen den Aufseher im Vernichtungslager Sobibor, John Demjanjuk.

Das Landgericht München hatte den vergleichsweise niedrigrangigen KZ-Wachmann 2011 wegen Beihilfe zum Mord an mehr als 28 000 Menschen verurteilt – obwohl ihm keine direkte Tatbeteiligung nachgewiesen werden konnte. Nach Auffassung der Ludwigsburger Zentralstelle ist somit jeder belangbar, der in einem KZ dazu beigetragen hat, dass die Tötungsmaschinerie funktionierte – egal, ob direkt als Aufseher bei den Gaskammern oder indirekt als Mitarbeiter in der Wäscherei oder als Koch.

Lange waren viele mutmaßliche Täter straffrei geblieben, weil der Bundesgerichtshof 1969 im Fall Auschwitz, das als gemischtes Arbeits- und Vernichtungslager galt, festgelegt hatte, dass für eine Verurteilung der Wächter wegen Beihilfe zum Mord die individuelle Schuld nachgewiesen werden müsse. Dies war vielfach nicht möglich. „Wir haben im Zuge des Demjanjuk-Prozesses die Rechtslage noch einmal überdacht und sind zu dem Schluss gekommen, dass die BGH-Entscheidung nicht mehr dem heutigen Forschungsstand entspricht“, sagt Schrimm.

In der Folge arbeiteten Schrimm und seine Kollegen noch einmal akribisch eine Liste mit 6000 Namen von ehemaligen Auschwitz-Aufsehern durch. Übrig blieben am Ende die Namen von 30 Personen, die identifiziert werden konnten. Doch noch haben die Fahnder nicht alle Quellen ausgeschöpft. „Nach meiner Einschätzung wird es nicht bei den 30 Leuten bleiben“, sagt Schrimm.

Richard Jelaneks Anwalt, Reinhard Engel, will noch in dieser Woche Haftbeschwerde einlegen. „Mein Mandant ist ziemlich krank, was auch mit seinem hohen Alter zusammenhängt“, begründet Engel.

Unterdessen erklärt der Leiter des Wiesenthal-Zentrums, Efraim Zuroff, in Jerusalem: „Das hohe Alter der Verbrecher darf eine strafrechtliche Verfolgung nicht verhindern.“ Die Verbrecher hätten kein Mitleid verdient.