Im fachlichen Austausch: Geschäftsführer Bernd Rühle vom Diakonie-Klinikum Stuttgart, Gerlinde Kretschmann und Barbara Traub, Psychonkologin am Diakonie- Klinikum Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Im Jahr 2021 erhielt Gerlinde Kretschmann die Diagnose Brustkrebs. Der Tumor scheint besiegt, doch für die Frau des Ministerpräsidenten ist das Thema nicht beendet.

Für einen Kaffee scheint es heute nicht zu reichen – die Kannen am Kuchenbuffet sind schon wieder leer. Gerlinde Kretschmann stellt die unbenutzte Tasse zurück und reiht sich geduldig für ein Glas Mineralwasser in eine kleine Schlange ein. Rund hundert Teilnehmerinnen sind zum Informationsnachmittag für Brustkrebspatientinnen ins Diakonie-Klinikum Stuttgart gekommen. Und es fällt auf, dass Gerlinde Kretschmann zunächst mal nicht auffällt. Hier ist sie nicht die „First Lady“, sondern eine von ihnen: Eine zierliche Frau von 77 Jahren, mit großer Brille und kleinen Löckchen, die am eigenen Leib erfahren hat, was die Diagnose Krebs für eine Wucht im Leben eines Menschen entfalten kann.

 

Gerlinde Kretschmann wollte Krebs öffentlich machen

Die Brustkrebsdiagnose war Anfang 2021 bekannt geworden – auch dass Ministerpräsident Winfried Kretschmann beruflich kürzer treten wolle, um mehr zu Hause zu sein. Der Schritt in die Öffentlichkeit sei ihr Wunsch gewesen, versichert Gerlinde Kretschmann den Teilnehmerinnen des Infonachmittags. Zu groß sei damals die Sorge gewesen, dass man ihr ansonsten nicht mehr unbefangen gegenüber treten könne. „Man sieht einem doch an, wenn es schlecht läuft“, sagt sie. Dann hätte jeder seine Vermutungen angestellt, aber offen angesprochen hätte es keiner. Auf so ein Versteckspiel habe sie keine Lust gehabt. Das sei „entwürdigend“.

Es wird schnell klar, warum das Diakonie-Klinikum diese Frau als Schirmherrin der Veranstaltung gewonnen hat: Nicht allein, weil sie jahrelang das Mammografie-Screening-Programm des Landes zur Brustkrebsvorsorge gefördert hat. „Wir wollten sie als eine Art Leitfigur, die zeigt, wie man einer lebensbedrohlichen Krankheit begegnen kann: vor allem mit Aufrichtigkeit und Würde“, sagt der Chefarzt des Brustkrebszentrums am Diakonie-Klinikum, Thomas Kuhn, der die Veranstaltung ins Leben gerufen hat.

Dem Scheinriesen keine übermäßige Bedeutung geben

Im Saal ist die Psychoonkologin Tonja Deister aus Weinheim ans Mikrofon getreten. Sie spricht über die Angst, die Krebspatientinnen befällt, die ihr Leben nicht mehr leben können wie früher, weil die Therapien ihr Äußeres verändern oder weil sie an manchen Tagen wegen der körperlichen Belastung lieb gewonnene Rituale in der Familie nicht fortführen können. Das Gefühl, rasch ersetzbar zu sein, mache bange, hätten ihr viele Patientinnen gesagt. „Man muss die Angst benennen, um ihr begegnen zu können“, sagt sie und verweist auf Michael Ende.

Der Schriftsteller und Kinderbuchautor, der selbst schwer an Krebs erkrankt war, lässt Jim Knopf und Lukas den Lokomotivführer in der Wüste dem Scheinriesen Tur Tur begegnen. „Von Ferne sieht Tur Tur sehr gefährlich aus“, sagt die Psychoonkologin. Doch mit jedem Meter, mit dem sich der vermeintliche Riese den beiden nähert, wird Tur Tur immer kleiner. Als er vor ihnen steht, ist er ein hagerer alter Mann mit langem Bart, der Jim Knopf an Größe kaum überragt – niemand, vor dem man sich fürchten muss. So rät auch Deister: „Lassen Sie Ihre Angst nicht zum Scheinriesen werden.“

Sie hatte stets Zuversicht, die Krebserkrankung zu überwinden, sagt Gerlinde Kretschmann. Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Gerlinde Kretschmann gefällt dieses Bild vom Scheinriesen. Es erinnert sie an die vielen Gespräche von Betroffenen, die seit Bekanntwerden ihrer Erkrankung auf sie zugekommen sind, erklärt sie später. Diese Begegnungen hätten ihr gezeigt, wie abschreckend das Wort Krebs auf viele wirke. „Ich habe dasselbe wie Sie“, hätten ihre Gesprächspartnerinnen oft gesagt und gleichzeitig vermieden, das Wort „Brustkrebs“ in den Mund zu nehmen. Das zeige, wie angstbesetzt die Krankheit noch immer sei, sagt Kretschmann. Dabei sollte eine ernst zu nehmende Erkrankung kein Tabuthema sein.

Krebs gehört für sie zur Familie

So unverkrampft über Krebs zu reden, wie sie es an diesem Nachmittag tut, fällt noch immer schwer – trotz jahrzehntelanger Aufklärung und trotz der Statistik, nach der fast jede zweite Frau und jeder zweite Mann in Deutschland im Laufe des Lebens an irgendeiner Form von Krebs erkranken wird.

Gerlinde Kretschmann machen diese Zahlen keine Angst. Der Krebs, so sagt sie, gehöre zu ihrer Familie dazu: Ihr Vetter ist an Krebs gestorben, auch ihre Mutter hat ihr Leberkarzinom nicht überlebt. „Sie war damals genauso alt, wie ich es bei meiner Diagnose war“, sagt sie. Schlimm sei der Kampf gegen die Krankheit damals für die Mutter gewesen, vor allem, weil die Mutter sich immer die Frage nach dem Warum gestellt hätte – nach einem Leben ohne viel Alkohol. „Ich habe daraus gelernt und weiß: Krebs ist nicht fair.“

Gerlinde Kretschmann ist seit Ende 2021 krebsfrei

Gerlinde Kretschmann verleiht ihrer Erkrankung keine Bedeutung, keine Botschaft: Der Tumor war für sie ein molekularer Unfall; nichts, wofür sich jemand schuldig fühlen muss. Das Motto des Brustkrebspatientinnentags ist auch das ihre gewesen: Mach Dich auf den Weg. „Als altgediente Albvereinswanderin hab ich mich daran gehalten.“

Sie hat ihr Ziel erreicht: Seit Ende 2021 ist Gerlinde Kretschmann krebsfrei. In der onkologischen Abteilung des Klinikums Sigmaringen hat sie sich operieren und bestrahlen lassen. Eine Chemotherapie hat es bei ihrer Form des Brustkrebs nicht gebraucht. „Gott sei Dank.“ Und dank der Ärzte, fügt sie schnell hinzu: „Die wussten genau, was sie tun. Da gab es für mich keine Zweifel.“

Zur Reha auf die Insel Sylt

Als wichtig empfand sie die Begegnungen und Gespräche mit dem Behandlungsteam. Das habe ihr stets Mut gemacht und sie davon überzeugt: „Der Krebs, der packt mich nicht am Kragen – höchstens ein bisschen.“ Ihren Behandlungsplan hat sie eingehalten, ansonsten hat sie ihren Körper geschont, viel gelesen und viel gestrickt. „Ich war oft sehr müde“, sagt sie. Dann sei sie zu Hause geblieben. Sie habe weder sich noch der Welt beweisen wollen, schnell wieder leistungsfähig werden zu müssen.

Nur als es darum ging, zur Reha zu fahren, da wollte sie raus aus dem Ländle: „Die Wochen auf Sylt haben mir richtig gut getan“, sagt sie und meint weniger die Angebote der Rehaklinik mit Achtsamkeitsübungen, Sportangeboten und Meditation. Stattdessen hat sie sich einen Fahrplan der öffentlichen Busse besorgt, ist über die Insel gefahren, durch Dünenlandschaften oder über das Watt gewandert. „Das hat mich erfüllt.“

Guter Rat von Gerlinde Kretschmann

Gerlinde Kretschmann macht keinen Hehl daraus, dass sie trotz allem noch Glück gehabt hat. Sie hat sich nicht mit Themen beschäftigen müssen, die an diesem Nachmittag von den Ärzten in Vorträgen angesprochen werden: Etwa welche operativen Möglichkeiten es gibt, wenn die Erkrankung und die Therapie das Äußere so verändert, dass die Betroffenen ihre Weiblichkeit in Frage stellen. Oder welche förderlichen Effekte eine therapeutische Fastenzeit auf die Chemotherapie haben kann.

Auch hat der Krebs nicht ihre berufliche und soziale Existenz bedroht – sie hat sich bei der Diagnosestellung keine Gedanken darüber machen müssen, wie es mit der Arbeit oder der Familienplanung weitergehen soll. Umso wichtiger ist es ihr als Schirmherrin, darauf aufmerksam zu machen, dass es wichtig sei, sich frühzeitig kompetente Hilfe zu suchen – etwa in zertifizierten Krebszentren.

Auf dem Weg zum Kirchenchor

Auf die Frage, ob der Krebs die Person verändert habe, überlegt Gerlinde Kretschmann lange. Ihre Antwort ist typisch für Menschen, die diese schwierige Etappe gemeistert haben: „Ich achte mehr auf Pausen im Alltag und mache das, worauf ich Lust habe.“ Wobei sie sich erinnert, dass sie nun dringend nach Hause müsse. „Es tut mir leid“, sagt sie allen zum Abschied. „Ich will noch zur Probe unseres Kirchenchors.“

So viele Frauen erkranken an Brustkrebs – so viele überwinden sie

Erkrankung
  Brustkrebs ist mit etwa 30 Prozent aller Krebsfälle die häufigste Krebserkrankung bei Frauen in Deutschland. Seit den achtziger Jahren ist die Zahl der Fälle um das Doppelte gestiegen: Aktuell stellen Ärztinnen und Ärzte ungefähr 69 000 Mal im Jahr die Diagnose „Mammakarzinom“ bei einer Frau.

Statistik
 Derzeit erkrankt eine von acht Frauen im Laufe ihres Lebens an Brustkrebs. Dabei steigt das Risiko mit zunehmendem Alter. Jüngere Frauen sind nur selten betroffen, erst ab dem 40. und besonders ab dem 50. Lebensjahr erhöht sich das Risiko, um ab dem ca. 70. Lebensjahr wieder abzusinken. Vorsorge
Wenn auch die häufigste Krebsart bei Frauen, so ist Brustkrebs aber nicht die gefährlichste. Rechtzeitig erkannt, sind die meisten Erkrankungen heilbar. Die Sterberate ist seit Jahrzehnten kontinuierlich rückläufig. Rund 87 Prozent aller Frauen mit Brustkrebs-Diagnose sind nach fünf Jahren noch am Leben.