Körperlich behinderte Kinder am Gym nasium sind keine Seltenheit mehr. Was aber ist mit geistig Behinderten, die das Abitur nie schaffen werden?
Walldorf/Stuttgart - Seit Wochen steht das Gymnasium in Walldorf im Blickfeld der Öffentlichkeit. Die Schule im Rhein-Neckar-Kreis könnte Vorreiter in puncto Inklusion werden. Doch sie will nicht. Nach der Gesamtlehrerkonferenz hat sich nun auch die Schulkonferenz, in der Lehrer, Eltern und Schüler sitzen, dagegen ausgesprochen, einen Jungen mit Down-Syndrom aufzunehmen. Der Elfjährige könnte dem Unterricht auf einem Gymnasium geistig nicht folgen und hätte daher ein anderes Lernziel als das Abitur – es wäre einer der ersten Fälle dieser Art auf einem Südwest-Gymnasium.
Nur einer der 95 Lehrer habe sich bereiterklärt, in einer Inklusionsklasse zu unterrichten, teilte das Kultusministerium am Freitag den Eltern dreier behinderter Kinder mit. Die drei Kinder, zwei von ihnen mit einer Gymnasialempfehlung, wollten nach den Sommerferien von der örtlichen Grundschule gemeinsam mit ihren jetzigen Mitschülern ins örtliche Gymnasium wechseln. Doch das Gymnasium lehnt die Aufnahme des geistig behinderten Jungen ab.
Anders als die meisten Kinder mit Down-Syndrom besuchte Henri bisher eine reguläre Grundschule, keine Sonderschule. Die frühere Landesregierung hatte 2010 in fünf Regionen, darunter auch Mannheim, Modellversuche zur Inklusion eingerichtet. In Henris jetziger Klasse sitzen neben den 16 Kindern ohne Handicaps ein weiteres Kind mit einer geistigen Behinderung und zwei Kinder mit starken körperlichen Einschränkungen. Die Grundschüler werden von zwei Lehrern unterrichtet, einer Grundschullehrerin und einem Sonderpädagogen.
„Von dieser Zusammensetzung haben alle Schüler profitiert“, sagt Werner Sauer, Leiter der Grundschule. Von den fünf Parallelklassen habe die Klasse, in der auch behinderte Kinder saßen, bei den bundesweiten Vergleichsarbeiten im zweiten Schuljahr am besten abgeschnitten. In dieser Integrationsklasse hätten auch mehr Viertklässler eine Empfehlung fürs Gymnasium erhalten als in den anderen Klassen.
Das ist der Grund, warum Henris Eltern ihren Sohn auch dorthin schicken wollen. „Natürlich wird er nie Abitur machen können“, sagt seine Mutter Kirsten Ehrhardt. Sie möchte aber, dass ihr Sohn mit seinen Freunden zusammenbleibt und wie bisher von und mit ihnen lernt.
Die Schulleitung äußerte sich am Freitag nicht zu der Entscheidung der Schule. Regina Roll, Elternbeiratsvorsitzende des Gymnasiums und Gesamtelternbeiratsvorsitzende von Walldorf, erklärte, die Schule sei nicht gegen Inklusion – an dem Gymnasium hätten viele Schüler mit körperlichen Behinderungen Abitur gemacht. Aber für die Inklusion eines Kindes mit geistiger Behinderung fehlten die Rahmenbedingungen. Die zusätzlichen Stunden für einen Sonderpädagogen seien nur für ein Jahr zugesagt worden.
Auch unter den Eltern der künftigen Fünftklässler am Gymnasium habe es Widerstand gegeben, sagt eine Mutter, die nicht genannt werden will. Einige, deren Kinder bisher mit Henri die Grundschule besuchen, seien froh, dass das bald vorbei sei. Außerdem könne der Junge dem Unterricht am Gymnasium nicht folgen.
Mit dieser Haltung stehen die Walldorfer nicht allein. Nach dem Schulgesetz sei es die Aufgabe des Gymnasiums, junge Menschen zur Hochschulreife zu führen, sagt Bernd Saur, Landesvorsitzender des Philologenverbands. Unterricht, der von Anfang an zu einem anderen Abschluss führt, sei an den Gymnasien nicht vorgesehen, dafür gebe es die von Grün-Rot ins Leben gerufene Gemeinschaftsschule. Diese ist von der Landesregierung ausdrücklich als inklusive Schule definiert, an der sich Schüler auf unterschiedliche Abschlüsse vorbereiten können – Hauptschulabschluss, mittlere Reife und Abitur. Doch in Walldorf gibt es keine Gemeinschaftsschule.
Grundschulrektor Sauer hat wenig Verständnis für die Entscheidung des Gymnasiums. „Man kann den Schulversuch doch nicht einfach abbrechen.“ Dass Lehrer zunächst skeptisch seien, könne er nachvollziehen. Nicht jedoch, dass sie sich nicht auf einen Versuch einließen, bei dem sie vom Schulamt gut unterstützt würden. Auch die Schulverwaltung hat aus seiner Sicht zu wenig getan. „Es war doch klar, dass die behinderten Kinder, die vor vier Jahren an einer Grundschule eingeschult wurden, im Jahr 2014 ein Angebot an einer weiterführenden Schule brauchen und voraussichtlich nicht an eine Sonderschule wechseln wollen“.
In den vergangenen Wochen haben das Schulamt Mannheim und das Regierungspräsidium Karlsruhe versucht, Lehrer und Eltern am Walldorfer Gymnasium von dem Schulversuch zu überzeugen. Am Montag hatte ein Vertreter in der Schulkonferenz dargelegt, welche personelle und sachliche Unterstützung die Schule erhalten würde, wenn sie die Schüler aufnähme. So sollte die Klasse von zwei Lehrern, einem Gymnasiallehrer und einem Sonderpädagogen, unterrichtet werden. Für die sonderpädagogische Begleitung wollte das Schulamt 26 Unterrichtsstunden wöchentlich zur Verfügung stellen, ebenso Beratung durch die beteiligten Sonderschulen. Zudem sollten die Gymnasiallehrer in der inklusiven Klasse insgesamt fünf Stunden Unterrichtsnachlass wöchentlich erhalten, um sich auf die neuen Aufgaben mit den behinderten Schülern vorbereiten zu können. Auch Fortbildungen und eine enge Begleitung wurden angeboten.
Das Kultusministerium hat nun das Schulamt Mannheim damit beauftragt, weitere Möglichkeiten für ein inklusives Bildungsangebot für alle drei Kinder zu prüfen, etwa an der örtlichen Realschule, der Werkrealschule oder an einer Gemeinschaftsschule in einer Nachbargemeinde. „Diese Alternativen werden mit den Eltern im Rahmen einer Bildungswegekonferenz erörtert und abgestimmt“, sagte ein Sprecher des Ministeriums am Freitag. Falls die Eltern alternative Angebote ablehnen, müsste Kultusminister Andreas Stoch eine abschließende Entscheidung treffen. Vor wenigen Tagen hatte der SPD-Politiker erklärt, dass keine Schulart vom Thema Inklusion ausgenommen sei. Eltern könnten allerdings nicht bestimmen, an welche konkrete Schule ihr Kind gehen soll, sagte sein Sprecher. „In jedem Einzelfall muss geprüft werden, welche Voraussetzungen für eine Aufnahme von Kindern mit Behinderung in einer Schule vorliegen.“ In erster Linie gehe es um das Wohl des Kindes.
Kirsten Ehrhardt will noch nicht über Alternativen nachdenken. Kultusminister Stoch müsse entscheiden, ob sich Eltern behinderter Kinder daran gewöhnen müssten, „dass einzelne Kinder aus von Schulämtern zusammengestellten inklusiven Gruppenlösungen von Schulen entfernt werden können, dass sich die Schulen also die ihnen angenehmen Kinder mit Behinderung heraussuchen dürfen wie Rosinen aus einem Kuchen. Das wäre Separation in der Inklusion.“
Stoch und den Familien der behinderten Kinder den Rücken stärken will Holger Wallitzer-Eck mit einer Online-Petition. Der Heidelberger, Vater eines Zweitklässlers mit Down-Syndrom, fordert Stoch auf, „kraft seines Amtes“ den Schulversuch am Walldorfer Gymnasium einzusetzen – trotz der Ablehnung durch Lehrer und Eltern. „Denn tut er es nicht, wird das einen Dominoeffekt auslösen“, befürchtet Wallitzer-Eck. Jede weiterführende Schule könne dann Inklusion erfolgreich abwehren. „Das wäre ein schlimmer Rückschritt für alle Beteiligten im noch jungen Inklusionsprozess.“