Tiago wurde vor zwei Wochen zwei Jahre alt. Seine Eltern Jens Hafner und Stephanie de Freitas hoffen darauf, dass er möglichst bald mit dem Gentherapeutikum Zolgensma behandelt wird. Foto: Maier

Pharma-Riese verlost Millionen-Medikament. Tiago aus dem Zollernalbkreis steht nicht auf Liste.  

Geislingen-Binsdorf - Es gleicht einer Lotterie: Der Pharma-Konzern Novartis verlost weltweit 100 Dosen von Zolgensma - ein zwei Millionen Dollar teures Medikament, das in Deutschland noch nicht zugelassen ist.

Es könnte das Leben des zweijährigen, an Spinaler Muskelatrophie Typ 2 erkrankten Tiago aus Geislingen verlängern. Doch für ihn stehen die Chancen gleich Null, unter den glücklichen Auserwählten zu sein. Und das nicht nur, weil Zolgensma nur etwa innerhalb der ersten zwei Lebensjahre wirkt und ihm die Zeit davonläuft, sondern auch, weil er unter einem anderen Typen der Krankheit leidet.

An diesem Montag gab das zuständige Paul-Ehrlich-Institut in Langen grünes Licht: Kinder in Deutschland können nun im Rahmen der Verlosungsaktion mit dem Mittel behandelt werden, obwohl es in Europa noch nicht zugelassen ist. Es gebe keine Gründe zu widersprechen, teilte das Institut mit. Die Verlosung der ersten Dosis begann ebenfalls direkt an diesem Montag. Der kleine Tiago aus Geislingen steht jedoch nicht auf der Liste.

Medikament schlägt bei Kind gut an

"Spinale Muskelatrophie Typ 1 verläuft schlimmer, die Kinder sterben früher", erklärt Tiagos Mutter Stephanie de Freitas. "Deswegen werden nur diese Kinder bei der Verlosung berücksichtigt. Obwohl Typ 2 auch schlimm ist." Gegen die lebensbedrohliche Muskelkrankheit wird Tiago an einer Klinik in Freiburg mit Spinraza behandelt. Es ist in Deutschland das einzige bislang zugelassene Medikament gegen Spinale Muskelatrophie. Dieses schlage durchaus gut an, sagen seine Eltern: Der Junge könne zwar seine Arme nicht frei bewegen, aber etwa wieder ein Glas anheben und sich wieder selbstständig drehen, wenn er sich anstrenge.

Der Nachteil ist, dass das Kind Spinraza regelmäßig bekommen muss, wohingegen die Wirkung von Zolgensma laut Hersteller dauerhaft sein soll. Bei Zolgensma handelt es sich um eine sogenannte Gentherapie. Bei Kindern, die mit Spinaler Muskelatrophie geboren werden, ist ein Gen namens SMN1 defekt. Deshalb arbeiten bestimmte Nervenzellen im Rückenmark nicht richtig, die Signale an die Muskeln weitergeben. Das Medikament aus der Schweiz schleust nun über eine Art Virus das funktionsfähige Gen in die Zellen ein. Die Nervenzellen können dadurch zumindest zum Teil ihre Aufgaben wieder erfüllen.

Öffentlichkeit sieht das Verfahren skeptisch

Für die Kinder bedeutet das eine Verbesserung oder zumindest eine Verzögerung ihres Krankheitsverlaufs. In der Schweiz und den USA ist Zolgensma bereits zugelassen, nicht jedoch in Deutschland. Studien, die die Langzeitwirkung bestätigen, fehlen noch. Deshalb zahlt die Krankenkasse nicht. 

Seit Ende des vergangenen Jahres läuft für Tiago die wohl teuerste Spendenaktion in der Geschichte des Zollernalbkreises. Damit versuchen seine Eltern, das zwei Millionen Medikament zu finanzieren. "Den genauen Kontostand müssen wir wieder einmal nachschauen", meint Tiagos Mutter. Noch immer gehen regelmäßig Beträge ein. Die 800.000 Euro-Grenze wurde schon zu Tiagos zweitem Geburtstag vor zwei Wochen erreicht - ein Grund zu feiern, aber auch einer zur Sorge: Je früher der Junge das Medikament bekommt, um so größer die Wahrscheinlichkeit, dass es noch wirkt. Es wird nun allerhöchste Zeit.

Auf den Gewinn bei der Verlosung können sich die Eltern des Zweijährigen jedoch keine Hoffnungen machen. Deswegen sind sie weiterhin auf Spenden angewiesen.

"Die Verlosung sehe ich ohnehin kritisch", meint de Freitas. "Es ist ein zwiespältiges Thema. Einerseits wird mit der Aktion vielleicht 100 Kindern auf der Welt geholfen. Andererseits spielt die Pharma-Industrie hier mit Menschenleben." Es dürfte sich dabei tatsächlich um die vielleicht kontroverseste Aktion in der Geschichte der Pharmaindustrie handeln. Kritiker betiteln die Aktion als "unethische Marketing-Strategie" des Schweizer Pharma-Riesen. 

"Haben nicht genug Dosen zur Verfügung"

Während Tiago nicht für das Verfahren in Frage kommt, hat Margarete Ubber aus dem Raum Stuttgart zwei betroffene Kinder, die sie trotz der Möglichkeit bewusst nicht angemeldet hat. "So sollte man nicht über kranke Kinder entscheiden", sagt sie. "Das sollten Ärzte machen, nicht Willkür." Ubber stört es, dass Zolgensma in dem Wirbel um die Verlosungsaktion oft als heilendes Wundermittel angepriesen werde. 

"Die von einigen Partnern geäußerte Kritik hat uns nicht überrascht", so das Unternehmen. Die Herstellung von Zolgensma sei jedoch sehr aufwendig. "Es ist ein Dilemma. Wir haben einfach nicht so viele Dosen zur Verfügung, wie wir gerne hätten. Bei aller Kritik an diesem Verfahren mangelt es bislang an Vorschlägen für bessere Alternativen."

Über dieses Jahr werden die insgesamt 100 Spritzen per Zufallsverfahren vergeben. Die Familien konnten sich im Vorfeld bei ihrem Arzt - es musste ein erfahrener Neuropädiater sein, der sich mit der Krankheit auskennt - melden, der seinen Patienten dann für das globale Härtefallprogramm registrieren konnte.

Zulassung in den kommenden Monaten?

Gemeinsam mit einem Ethikrat sei das Auswahlverfahren ausgearbeitet worden. "Wir haben Anfragen aus der ganzen Welt bekommen und mussten schnell reagieren, um möglichst vielen  Patienten so schnell wie möglich eine Chance zu geben", erklärt das Unternehmen. Das Ganze laufe anonym, unter Ausschluss der Öffentlichkeit.

Ob ein betroffener Patient zu den Glücklichen gehört oder nicht, erfahre dieser ebenfalls vom Arzt. Für die übrigen gibt es jedoch einen Lichtblick. "Die europäische Zulassung von Zolgensma erwarten wir im ersten Halbjahr 2020", stellt Novartis in Aussicht.