Seit Ende März sitzt der Angeklagte in der Justizvollzugsanstalt Hechingen ein. Voraussichtlich am kommenden Montag fällt das Urteil. Foto: Schnurr Foto: Schwarzwälder Bote

Prozesse: Depressionen und Streit ums Familienerbe als Hintergründe der Messerattacke in Binsdorf / Urteile kommende Woche

Dass ein Mann in Binsdorf seine Mutter niedergestochen hat, ist unstrittig. Doch war das die direkte Ursache ihres späteren Todes und geplanter Mord? Ja, sagt die Rechtsmedizinerin, deren Gutachten das Hechinger Landgericht am Dienstag, dem dritten Prozesstag, gehört hat.

Geislingen-Binsdorf. Als erstes sagte eine Notärztin über ihren Einsatz im März aus. Gut eine Dreiviertelstunde hat sie sich um die in den Bauch gestochene Rentnerin gekümmert. Im Rettungswagen habe die Patientin zu ihr gesagt, dass sie nicht mehr leben wolle – und die Frage über ihren Sohn geäußert, die auch jetzt noch im Raum steht: "Warum hat er das getan?"

Fast sechs Wochen lag die Verletzte im Krankenhaus, lange Zeit im Koma. Anfang Juni kam sie in ein Heim in Albstadt. Dort ist sie drei Wochen später gestorben.

Der Pflegedienstleiter war ebenfalls als Zeuge geladen und berichtete, wie sich ihr Gesundheitszustand verschlechterte: Die Seniorin sei geschwächt in die Einrichtung gekommen und immer schwächer geworden. Die Frau habe kaum noch trinken und essen wollen, sich bereits nach geringer Nahrungsaufnahme erbrochen. In Abstimmung mit ihrer Tochter habe man ihren Willen respektiert und sie nicht mit Zwang ernährt, so der Zeuge. Ob klar gewesen sei, dass die alte Dame dadurch sterben würde, wollte der Vorsitzende Richter von dem Zeugen wissen. "Ja. Das war die Konsequenz."

Die Rechtsmedizinerin legte in ihrem Gutachten dar, dass zwischen dem Tod der Frau und dem Messerstich ein direkter Zusammenhang bestand habe. Sie hatte die Verletzte nach der Notoperation im März untersucht und war drei Monate später an der Obduktion des Leichnams beteiligt. "Das ist nicht die Verstorbene", beschrieb sie ihren ersten Eindruck; die tote Binsdorferin wog nur noch 38 Kilogramm.

Als Todesursache erbrachte die Untersuchung Herz-Kreislauf-Versagen als Folge einer Lungenentzündung: "Die typische Folge einer Bettlägerigkeit, besonders bei ihrem geschwächten Ernährungszustand", hielt die Ärztin fest.

Der körperliche Verfall und Tod seien ohne den Messerangriff, nicht wahrscheinlich gewesen: Vor der Tat war die Seniorin noch mobil und trotz mehrerer Vorerkrankungen weitgehend selbstbestimmt gewesen.

Der Stich, der Leber, Bauspeicheldrüse und eine Darmvene durchbohrt und zu inneren Blutungen geführt hat, war demnach Ursache mehrerer Entzündungen im Baumraum, dreier weiterer Operationen und von Wucherungen im Unterleib, die zu Schmerzen beim Essen und Trinken sowie zur Nahrungsverweigerung führten. Und die Lungenentzündung, an der die Rentnerin starb, war eine Folge der schweren Verletzungen vom 24. März. "Diese haben sich fortgesetzt bis zum Tod", befand der Richter.

Im Raum stand dann die Frage, was den Angeklagten zu dem unerwarteten Gewaltausbruch geführt hat. Seine ehemalige Lebensgefährtin und seine erwachsenen Kinder beschrieben den 55-Jährigen übereinstimmend als fürsorglichen, hilfsbereiten und warmherzigen Menschen.

Der psychiatrische Gutachter attestierte dem Mann eine lang anhaltende, durch Belastungen verstärkte depressive Stimmung, begründet in Gewalterfahrungen und Zurücksetzungen seit dessen Kindheit. Er stellte beim Angeklagten eine leichte bis mittelschwere, depressive Episode fest, aber "es liegt keine Persönlichkeitsstörung vor". Und ebenso wenig ein Grund für eine erhebliche Schuldminderung oder -unfähigkeit.

Die Tat gegen die Mutter erscheint dem Gutachter wie eine Projektion von Schuldgefühlen. Seine ordentlich dotierte Stelle hatte der Angeklagte im Dezember gekündigt, um sich selbstständig zu machen. Das klappte nicht so gut wie erhofft. Hinzu kamen Sorgen um seine zunehmend demente Mutter, die er aus dem für die Frau zu großen Haus in ein Altenheim bringen wollte, und Streit mit der Schwester, die genau das nicht wollte, obwohl ihr die Pflege der Parkinsonkranken allmählich zu viel geworden war und sich die Frauen oft stritten.

Mit der Schwester gab es auch Streit um eine Erbschaft innerhalb der Familie – und die Mutter stand zwischen allen Interessen. Sie sei für den Sohn zur Kristallisationsfigur seines eigenen Versagen geworden. "Anders ist das Tatgeschehen für mich nicht zu erklären", so der Psychiater.

Doch all diese Fakten sind lediglich Hintergründe der Messerattacke, keine Begründung oder gar Rechtfertigung: Wie die Tat zu bewerten und welches Strafmaß dafür angemessen ist, entscheidet das fünf Personen umfassende Gericht voraussichtlich am kommenden Montag.