Claus Meyer (links) mit dem Bild seiner großelterlichen Familie. Seine Großmutter war die Urgroßmutter von Ralf Brauer (2. von links). Der Nagolder Realschullehrer Gabriel Stängle hat gemeinsam mit OB Jürgen Großmann und dem Nagolder Heimat- und Geschichtsverein die Aktion Stolpersteine ins Leben gerufen, die an die Nagolder Euthanasie-Opfer erinnern soll. Foto: Buckenmaier

Euthanasie und Nagold – diese beiden Begriffe verbinden Historiker vor allem mit einem Namen: Eugen Stähle, Nagolder Arzt und einer der Hauptverantwortlichen für den Mord an mehr als 10 000 Kranken und Behinderten. Die Nagolder Opfer gerieten indes in Vergessenheit. Jetzt sollen Stolpersteine sie wieder ins kollektive Gedächtnis zurückholen.

Nagold - Es war kein Zufall, dass Adolf Hitler, zurückdatiert auf den 1. September 1939, die geheime Reichssache "T4" in Auftrag gab: die systematische Ermordung von aus NS-Sicht "unwerten Lebens". Dieses Datum markiert somit den Beginn von Hitlers Krieg nach außen wie nach innen.

 

Dass der Nagolder Arzt Eugen Stähle bei dieser geheimen Reichsaktion eine federführende Rolle spielte (siehe Info), ist bekannt. Dass aber auch 15 Menschen, die in Nagold wohnten oder hier geboren wurden, in die Gaskammer von Grafeneck geschickt wurden, geriet in den 80 Jahren, die seither vergangen sind, weitestgehend in Vergessenheit – zumindest öffentlich. In den Familien blieb es ein dunkler Fleck, der oftmals aus dem Gedächtnis verdrängt wurde.

Der Realschullehrer Gabriel Stängle, der gemeinsam mit seinen Schülerinnen und Schülern die Nagolder Zeit im Nationalsozialismus – mehrfach preisgekrönt – aufgearbeitet hat, ergriff nun die Initiative und fand in Oberbürgermeister Jürgen Großmann einen starken Unterstützer für die Erinnerungsaktion "Stolpersteine", wie es sie schon in vielen anderen Städten gibt. Dort werden vor Häusern, wo einst Menschen lebten, die Opfer der NS-Gewaltherrschaft geworden sind, sogenannte Stolpersteine mit deren Namen und Kurz-Vita versenkt. Bei dieser Aktion mit im Boot: Nagolds Heimat- und Geschichtsverein.

In den Augen von OB Großmann gibt es ein öffentliches Interesse, was an Gräueltaten in Nagold geschehen ist: "Wer seine Herkunft nicht kennt, kann seine Zukunft nicht meistern." Heute gebe es noch viele Menschen, die von dieser Thematik "Euthanasie" betroffen seien, so der OB. Wie zum Beispiel Claus Meyer, ein mittlerweile 81-Jähriger Professor, der an der Pforzheimer Hochschule lehrte. Er war gerade ein Jahr alt, als seine Großmutter Sophie Pauline Bayer in Grafeneck ermordet wurde.

Meyer kam eigens nach Nagold, um gemeinsam mit OB Großmann und Initiator Stängle die Erinnerungsaktion anzukündigen. Mit am Tisch: Ralf Brauer, Lehrer am Nagolder OHG und Neffe von Meyer. Brauer ging auf Bitten seines Onkels der Lebensgeschichte seiner eigenen Urgroßmutter auf den Grund. Ihm war es wichtig, einen Beitrag zu leisten, um "Licht in einen dunklen Fleck unserer Nagolder Lokalgeschichte zu bringen." Denn die Angehörigen seien ja in zweierlei Hinsicht geschlagen gewesen: Erstens durch die Erkrankung und den Ausfall des betroffenen Familienmitglieds im Familienverbund, dazu die Stigmatisierung im Dritten Reich, und zweitens natürlich durch die Selektion und Ermordung im Dienst des NS-Staates. Die Aufarbeitung dieses Themas sei insofern für die Familien ein "Meilenstein". Brauer durchforstete alte Archive von Pfarrämtern und Oberkirchenrat, forderte die Patientenakte an, schaute im Totengräber-Register nach und wandte sich auch an das Militärarchiv in Paris. All diese Recherchen ergaben ein Bild, das stellvertretend für die mehr als 10 000 Menschen stehen könnte, deren Schicksal in Grafeneck auf brutale Weise besiegelt wurde.

Sophie Bayer, geborene Pfund, heiratete demnach im Jahr 1906 in ihrem Geburtsort Kornwestheim den aus Rotfelden stammenden Maschinenmeister Gottlieb Bayer und brachte binnen 13 Jahren vier Töchter zur Welt: Elsa, Hedwig, Clara und Gertrud. Schon ein Jahr nach der Hochzeit zog die Familie nach Gündringen, wo ihr Mann als Maschinenmeister in der Pumpstation beschäftigt war. Man wohnte in dem fast schlossähnlichen Wasserwerk. Doch schon kurz vor Ausbruch des 1. Weltkrieges stellte ihr Mann bei Sophie Bayer emotionale Auffälligkeiten fest. Mit der vierten Schwangerschaft verschlechterte sich ihr Zustand. Sie äußerte erste Wahnvorstellungen. 1922 kam sie in die Nervenklinik. Als sie im Dezember von ihrem Mann nach Hause geholt wurde, lautete die Diagnose der Ärzte "paraphrene Form der Schizophrenie".

Wie viele andere Familien auch verloren die Bayers bei der Hyperinflation 1923 ihr ganzes angespartes Vermögen. Mit diesem finanziellen Absturz verschlimmerten sich die Wahnvorstellungen der damals 40-Jährigen. Sie wurde schließlich nach Rottenmünster bei Rottweil gebracht, wo sie blieb, bis sie am 16. September 1940 mit einem der berüchtigten grauen Busse gemeinsam mit 70 weiteren Patienten nach Grafeneck gebracht wurde. Da half auch nichts, dass ihr Mann Gottlieb seine SPD-Mitgliedschaft kurz nach der Machtübernahme Hitlers aufgab und der NSDAP beigetreten war. Seine Frau starb noch am selben Tag, als sie in Grafeneck eintraf, in der Gaskammer. Als offizielle Todesursache wurde Herzschlag angegeben.

Claus Meyer erinnert sich noch, dass sein Großvater nach dem Krieg über dieses Thema nie gern gesprochen hatte. Aber Gottlieb Bayer wusste offenbar schon 1941, dass es bei dem Tod seiner Frau nicht mit rechten Dingen zugegangen war. Er fand – Bayer zufolge – auf dem Feld ein Flugblatt der Alliierten, das die Hintergründe der Euthanasie aufdeckte. Bayer: "Wer’s gefunden hat, konnte seine Schlüsse ziehen." Die Urne mit der vermeintlichen Asche seiner Frau bekam der Witwer einen Monat nach Sophies Ermordung. Die Asche stammte indes mit großer Wahrscheinlichkeit nicht von Sophie Bayer. Die braunen Massenmörder hatten vermutlich gewöhnliche Feuerüberreste nach Gündringen geschickt. Sophie Bayer wurde 55 Jahre alt.

Gabriel Stängle hat nicht nur die Biografie der Frau aus Gündringen geschrieben, sondern die Schicksale aller Opfer recherchiert und wird sie in einem Buch samt der lokal- historischen Hintergründe zusammenfassen. Die "Stolpersteine" sind für den Lehrer ein wichtiges Zeichen: "Wir holen die Menschen in das Gedächtnis zurück." OB Großmann ist zudem wichtig, dass kein Nagolder Opfer bei dieser Stolpersteine-Aktion vergessen wird. Angehörige können sich direkt an Gabriel Stängle (staengle@chr-nagold.de) wenden.

Bei der geheimen Reichssache "Aktion T 4" wurden aus Nagold umgebracht:

Hans Brenner mit 23 Jahren am 13. Dezember 1940 in Grafeneck. Er wohnte zuletzt bei Flaschnermeister Kehle in der Freudenstädter Straße 12.

Gottlieb Albert Häussler mit 62 Jahren am 9. September 1940 in Grafeneck. Der ledige Friseur wohnte zuletzt in der Neue Straße 22. Sein Vater war Metzgermeister Jacob Friedrich Häussler. Gottlob war das jüngste von 16 Kindern.

Paul Henne aus Mindersbach mit 53 Jahren am 26. April 1940 in Grafeneck. Der gelernte Goldschmied lebte zuletzt in der Hirschstraße 6.

Franz Kreischer, gebürtig in Nagold, mit 39 Jahren in Grafeneck. Sein letzter Wohnort: Lautenbach.

Friedrich Wilhelm Rauser nur ein Tag vor seinem 52. Geburtstag in Grafeneck. Der ledige Kaufmann betrieb bis 1937 die Milche in der Turmstraße 2. Sein Vater Friedrich war nach Amerika ausgereist und blieb verschollen.

Arthur Reichert mit 61 Jahren in Grafeneck am 30. August 1940. Der ledige Kaufmann wohnte zuletzt in der Haiterbacher Straße 7. Arthur war das erste von vier Kindern des Ölmühlenbesitzers Ernst August Reichert.

Luise Barbara Renz mit 46 Jahren am 12. November 1940 in Grafeneck. Sie war das vierte von fünf Kindern von Georg Friedrich Renz, Kübler, und seiner Ehefrau Christine. Ihr letzter Wohnsitz: Inselstraße 24.

Friederike Schaaf mit 63 Jahren in Hadamar (Hessen) am 11. Juni 1940. Ihr Vater war Fuhrmann Jakob Klaißen. Friedrike Schaaf war verheiratet seit 1905.

Ulrich Schmid mit 29 Jahren am 29. November 1940 in Grafeneck. Sein Vater war Studienrat Karl Schmid, seine Mutter Anna, geborene Dietrich. Letzter Wohnort in Nagold: Herrenberger Straße 31. Seine Eltern wohnten zuletzt in Stuttgart-Heumaden.

Gotthilf Fischer mit 22 Jahren in Hadamar. Sein letzter Wohnort: Schäfergasse 9 in Pfrondorf.

Christian Theurer mit 68 Jahren in Grafeneck. Er lebte zuletzt bei seinem Bruder, dem Schietinger Adlerwirt Johannes Theurer.

Sophie Bayer mit 55 Jahren in Grafeneck. Sie musste sterben, obgleich ihr Mann, der Gündringer Maschinenmeister Gottlieb Bayer, seit 1933 NSDAP-Mitglied war.

Justina Eberle, ebenfalls aus Gündringen stammend, mit 58 Jahren in Grafeneck. Sie galt wie ihre Mutter Elisabeth als geistesschwach. Von der Anstalt Zwiefalten wurde sie am 4. Oktober 1940 entlassen – und am selben Tag in den Tod geschickt.

Leo Müller aus Hochdorf mit 60 Jahren in Hadamar. Der gebürtige Untertalheimer war das fünfte von neun Kindern des Zieglers Konrad Müller, der seit 1912 mit seiner Familie in Hochdorf lebte.

Ernestine Rosine Brenner aus Pfrondorf mit 48 Jahren am 4. Dezember 1940 in Grafeneck. Ihr Vater war der Maurer Johann Georg Brenner aus Pfrondorf. Dort lebte Ernestine auch, bis man sie am 30. Januar 1935 in die Heilanstalt brachte. Von der letzten Anstalt Weinsberg wurde sie direkt in den Tod geschickt – in Grafeneck.

Das war Eugen Stähle

Er war die Triebfeder eines 10.000-fachen Mordes: Eugen Stähle, der 1924 als Chefarzt der Kuranstalt Waldeck nach Nagold kam und 1931 zum Chefarzt des Genesungsheims Bad Röthenbach avancierte. Politisch machte er schnell Karriere: Schon 1933 saß er für die NSDAP im Reichstag. Bei der Wahl 1933 votierten mehr als 60 Prozent in Nagold für Hitlers Partei. Zeitgleich leitete Stähle als Ministerialdirektor im württembergischen Innenministerium die Abteilung Gesundheitswesen. Später durfte er sich mit dem Titel "Gaugesundheitsführer" schmücken. Hitler machte ihn 1943 zum Professor. Stähle war es, der maßgeblich an der Auswahl des Schlosses Grafeneck für die Mordaktion T4 beteiligt war. Bei ihm im Innenministerium liefen die Fäden dieser Krankenmordaktion zusammen. Stähle unterzeichnete persönlich Schreiben, in denen die Verlegung von Kranken aus württembergischen Anstalten in die Tötungsanstalt angeordnet wurde. Im Frühjahr 1940 überzeugte er sich vor Ort persönlich, wie kranke Frauen ins Gas geschickt wurden. Nach der Einstellung der Krankenmorde in Grafeneck Ende 1940 hielt es Stähle für "selbstverständlich", dass die Direktoren der Heilanstalten "selbst Euthanasie weitertreiben würden". Was sie auch taten: Bei der Aktion "Brandt" ließ man Zehntausende durch systematische Unterernährung oder Überdosierung von Medikamenten sterben. Stähle wurde nach dem Krieg von den Alliierten verhaftet und starb 1948 in Untersuchungshaft. Zuvor hatte er aber seinem Stellvertreter Karl Lempp, der 1943 für Kindermorde angeworben worden war, noch einen Persilschein ausgestellt. So blieb Lempp unbehelligt bis zu seiner Pensionierung 1950 Chef des städtischen Kinderkrankenhauses in Stuttgart.