Angehörige der russischen Absturzopfer trauern mit Blumen und Kränzen am zerstörten Heck der Tupolew 154. Foto: dpa/Rolf Haid

Wenn bald offiziell in Überlingen des Flugzeugunglücks von 2002 gedacht wird, dürften wohl nur Polizei-und Rettungskräfte geladen sein. Das hat mit dem Krieg in der Ukraine zu tun.

Es ist der 1. Juli 2002, 23.35 Uhr. In elf Kilometern Höhe stößt eine Passagiermaschine der Baschkirian Airline mit einem Frachtflieger des Paketdienstleisters DHL zusammen. Riesige Trümmer fallen in der Nähe von Überlingen zu Boden. 71 Menschen kommen ums Leben, darunter 49 Schulkinder, die unterwegs in die Ferien nach Barcelona sind. Sie stammen aus Ufa, einer russischen Stadt rund 100 Kilometer westlich des Ural-Gebirges. Niemand überlebt. Viele Rettungskräfte, die noch in der Nacht am Bodenseeufer ausschwärmen, erzählen bis heute, sie hätten die Bilder der Tragödie nie mehr aus dem Kopf bekommen.

 

Die Erinnerungen sind wach

Noch zehn Jahre nach dem Unglück, im Jahr 2012 bei der bis dahin größten Gedenkfeier, war die Trauer greifbar. Die Rechtsstreits um die Verantwortung waren entschieden, die Urteile gegen Fluglotsen in der Schweiz gesprochen. Am Waldrand von Überlingen-Brachenreuthe war ein Denkmal errichtet worden: neun große Edelstahlkugeln, die eine zerrissene Perlenkette symbolisieren. Zur Gedenkfeier reisten auch rund 150 Angehörige der Toten aus Russland an den Bodensee. Es gab einen Empfang, zu dem die baden-württembergische Landesregierung und die Stadt Überlingen eingeladen haben. Auch einen Gottesdienst. Überlinger Schüler entzündeten, als die Sonne unterging, Kerzen für die Verstorbenen.

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Am 1. Juli nun jährt sich das Unglück zum 20. Mal. Der deutsch-russisch besetzte Überlinger Verein „Brücke nach Ufa“, dessen Zweck es über all die Jahre war, Kontakt zu Bürgern der russischen Ural-Republik Baschkortostan zu halten, bereitete sich auf eine weitere große Zusammenkunft vor.

Gedenkveranstaltung sei durch den Krieg anders zu beurteilen

Jedes Jahr kommen Betroffene am Absturzort zusammen, sagt Schriftführer Andreas Martin, aber diesmal sollte das offizielle Baden-Württemberg wieder mit ins Boot. „Wir haben bei der Stadt um technische Unterstützung gebeten, unter anderem, um die Gäste unterzubringen“. Der Kriegsausbruch in der Ukraine aber habe die Kommunikation gekappt. „Seitdem ist alles in der Schwebe.“

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Überlingen sieht sich in der Klemme. Eine Sprecherin sagt, die Stadt sei bereit für eine Beteiligung am 1. Juli, lege jedoch „großen Wert darauf, dass die konkreten Details, der Umfang und die Abläufe für eine solche Gedenkveranstaltung die aktuelle Situation in der Ukraine angemessen berücksichtigen“. Wie diese Angemessenheit aussieht, soll das Staatsministerium Baden-Württemberg entscheiden. Mit Stuttgart stimme man sich derzeit ab. Das Staatsministerium wiederum hat sich beim Auswärtigen Amt in Berlin rückversichert, wie ein Sprecher bestätigt, denn: „Durch den Krieg ist die Gedenkveranstaltung nochmals unter anderen Gesichtspunkten zu beurteilen.“ Das Auswärtige Amt hat seine Vorgaben mittlerweile nach Stuttgart übermittelt, so der Sprecher. „Hier sieht man keine grundsätzlichen Bedenken in der Durchführung einer Gedenkveranstaltung – wohlgemerkt ohne diplomatische, beziehungsweise politische Vertreter Russlands und ohne Anreise der Hinterbliebenen.“

Was bleibt noch von der Gedenkfeier?

Diesmal gibt es also keine offizielle Einladung aus Baden-Württemberg an russische Familien – und damit keine Kostenübernahmen. Details über „Umfang und Abläufe für eine Gedenkveranstaltung“, heißt es aus Stuttgart, würden derzeit erarbeitet. Was bedeuten dürfte, dass zum 20. Jahrestag des Flugzeugabsturzes nur Polizei-und Rettungskräfte von 2002 geladen sind. Vereins-Schriftführer Martin bedauert diese Wendung. „Wir verstehen uns als Brückenbauer, nicht als Zaunbauer“, sagt er. Gerade in diesem Kriegstagen sei es doch wichtig, dass die Länder zumindest auf kultureller und gesellschaftlicher Ebene verbunden blieben.

Möglich übrigens, so glaubt man beim Verein, dass sich Einzelne doch ein Touristenvisum beschaffen und sich dann im Flugzeug via Türkei oder per Auto nach Überlingen durchschlagen. Auf die Frage, wie mit solchen unerwarteten Gästen dann umgegangen wird, hat zunächst weder Stuttgart noch Berlin eine Antwort.