Der Kulturwissenschaftler Franz-Elias Schneck, selbst ein Angehöriger der Sinti und mit der Familie Reinhardt verwandt, spannte in seinen Ausführungen den Bogen vom frühesten Mittelalter bis in die heutige Zeit. Foto: Erika Rapthel-Kieser

Die Gedenkfeier der Sinti-Familie Reinhardt in Burladingen stieß auf großes Interesse. Für die Stadt vollzog Bürgermeister Davide Licht eine bedeutende Kehrtwende.

Der Gemeindesaal von St. Fidelis in Burladingen war voll besetzt. Viele Bürger und politisch Interessierte, Gemeinderäte und kirchlich engagierte Burladinger waren zur Gedenkfeier an die Sinti-Familie Reinhardt gekommen.

 

Unrühmliches Kapitel der Burladinger Stadtgeschichte

Denn die Verfolgung der Roma und Sinti – einer Volksgruppe mit indischen Wurzeln – war auch in der Fehlastadt ganz konkret. Und sie blieb es sogar bis in die 1970er Jahre. Dass damals Bürgermeister Harry Ebert nicht nur die Gräber der in der Nazizeit vergasten, getöteten und teilweise zwangssterilisierten Mitglieder der Familie Reinhardt aufheben wollte, dass eine Verwaltung die Ziegelhütte oben in Hermannsdorf nach dem Tod des Patriarchen Lolo Reinhardt verrammelte und die restlichen Mitglieder der Familie vertrieb – es ist eines der unrühmlichsten Kapitel der jüngeren Burladinger Stadtgeschichte.

Für die vollzog Bürgermeister Davide Licht, der die erste offizielle Rede bei der Gedenkfeier hielt, eine bemerkenswerte und bedeutende Kehrtwende, die von Seiten aller Anwesenden mit viel Beifall bedacht wurde.

Die SS-Villen mit Zement aus der Asche der Verbrannten

Licht zitierte die mittlerweile berühmten Worte des Ausschwitz-Überlebenden Noah Pflug: „Die Erinnerung ist wie das Wasser: Sie ist lebensnotwendig und sie sucht sich ihre eigenen Wege in neue Räume und zu anderen Menschen. Sie ist immer konkret: Sie hat Gesichter vor Augen und Orte, Gerüche und Geräusche. Sie hat kein Verfallsdatum und sie ist nicht per Beschluss für bearbeitet oder für beendet zu erklären. Auch deshalb wollen wir als Opfer und sollen wir als Opfer nicht vergessen werden. Auch die heutige und die zukünftige Welt müssen wissen, wie das Unrecht, die Sklaverei der Zwangsarbeit und der Massenmord organisiert wurden und wer die Verantwortlichen dafür waren. Dies soll immer wieder dokumentiert und den jungen Menschen erklärt werden: Zur Erinnerung an uns und unsere ermordeten Angehörigen und zu ihrem Schutz in ihrer Zukunft“.

Bürgermeister Davide Licht mahnte zur Erinnerungskultur die für eine Demokratie unumgänglich sei. Foto: Rapthel-Kieser

Licht mahnte zur Erinnerungskultur die umso wichtiger werde wenn die Demokratie, so wie in der heutigen Zeit, gefährdet ist. Demokratie müsse sich daran messen lassen, wie sie mit ihren Minderheiten umgeht, stellte er klar. „Dass sie heute hier sind bedeutet uns sehr, sehr viel und das wäre zu Zeiten ihres Vorgängers undenkbar gewesen“, bedankte sich ein Mitglied der Familie Reinhardt.

Die SS-Villen mit Zement aus der Asche der Verbrannten

Danach war es der empirische Kulturwissenschaftler Franz-Elisas Schneck, der von der langen und grausamen Geschichte der Sinti und Roma in Europa erzählte und auch Zahlen nannte. Der Freiburger Reichstag erklärte „Zigeuner“ 1498 für „vogelfrei“, da man ihnen unterstellte, Spione der Türken zu sein. Jeder durfte sie fortan ungestraft töten. Sie wurden gelyncht, ermordet oder erschlagen, konnten nur überleben, wenn sie sich versteckten oder abwanderten. Die Vogelfreiheit endete 1806 – aber es folgte die Zeit, in der den Sintis die Gewerbescheine entzogen wurden, sie durften weder als Bärentänzer, noch als Puppenspieler, Holzschnitzer oder Musiker auftreten. So verloren sie ihre Einkommen, waren wieder völlig entrechtet und verarmten. In der Nazizeit wurden sie eingesammelt, von Rasseforschern genau vermessen und dann vergast. SS-Schergen bauten sich Häuser, in denen die Asche der Sintis mit dem Zement verrührt wurde.

Lolo Reinhardt blieb seinen Nachkommen gut in Erinnerung

Schneck nannte Namen aus dem direkten Umfeld und benannte die Täter auf der Schwäbischen Alb. In Hechingen etwa, in Mariaberg oder die von Deilingen.

Wie eng er mit der Familie Reinhardt verwandt ist, das erfuhr er aus den wenigen schriftlichen Archiven, denen er sich in seinem Studium widmete. Denn: „Bei den Sintis gab es nur die wörtlichen Überlieferungen. Wenn die Menschen sterben, ganze Generationen ausgerottet werden, ist auch diese Erinnerung weg“, führte er aus. Schneck sprach von „einem tief sitzenden Schmerz“.

Die herausragende Persönlichkeit Lolo Reinhardt

An wen sich die Burladinger noch gut erinnern, das ist der Sinti-Patriarch Lolo Reinhardt, der mit seiner Familie Jahrzehnte auf der Ziegelhütte wohnte. Lolo Reinhardt endete nur deshalb nicht in einem der Konzentrationslager, weil er sich als Kind in den Burladinger Wäldern versteckte.

Viele Zuhörer waren im Gemeindesaal St.Fidelis zusammen gekommen, um der Sinti und Roma zu Gedenken. Foto: Rapthel-Kieser

Das Leid, fast seine ganze Familie zu verlieren, hat ihn geprägt. „Eine große, herausragende Persönlichkeit“ wie alle Reinhardts bestätigten, ein Mensch, der auch mit den Behörden zurecht kam, weil er von der Ortspolizei genauso respektiert wurde wie von den Verwaltungsbeamten. Seine Lebenserinnerungen hat er in dem Buch „Überwintern. Jugenderinnerungen eines schwäbischen Zigeuners“, festgehalten. Über all das wurde Christine Reinhardt, seine Tochter, bei der Gedenkveranstaltung von Natascha Hofmann vom Verein „Pro Sinti und Roma“ interviewt.

Der Burladinger Geschichtsforscher Willy Gastel im Gespräch mit Christine Reinhardt. Im Hintergrund Natascha Hofmann. Foto: Rapthel-Kieser

Schnecks Vater erinnerte sich in diesem Zusammenhang an die „pure Lagerfeuerromantik“ und das gemeinsame Musizieren auf der Ziegelhütte, auf der es weder fließend Wasser noch Strom gab. Als Lolo Reinhardt 1994 starb, hatte es mit der Ziegelhütte ein Ende. Das Haus wurde verrammelt und abgerissen, Reinhardts Kinder vertrieben.

Aber: Sie sind noch da. Leben nun in Burladingen oder den Nachbarstädten. „Wir bleiben da, wo unsere Toten sind“, sagte Christine Reinhardt mit dem Blick auf die denkmalgeschützten Gräber ihrer Familie auf dem Burladinger Friedhof.