Sylvia Bahr begleitet werdende Mütter in Honduras. Viele Projekte hat sie gestemmt, setzt sich für eine würdige Geburt ein – und wurde dafür sogar ausgezeichnet.
Hechingen/Tegucigalpa - Die Ausstattung auf den Geburtsstationen: eine Katastrophe. Empathie im Kreißsaal: wenig vorhanden. Als Sylvia Bahr im Jahr 2007 nach Honduras kommt, weiß sie nicht, wohin ihr Weg sie führen wird. Beim Gespräch im Fürstengarten erzählt sie von der Geburtshilfe in dem zentralamerikanischen Land, wie sie einst die Hand einer werdenden Mutter hielt und inzwischen mit Unterstützung der Deutschen Botschaft vor Ort zwei Projekte gestemmt hat.
"Ein deutscher Arzt hat mich gefragt, ob ich in La Ceiba, einer Hafenstadt an der Nordküste, helfen möchte. So fing es an. Es gab nicht einmal Decken, keine Kopfkissen, wenig Leinentücher. Es war laut. Ich habe wenig Anteilnahme gegenüber den in den Wehen liegenden Frauen gespürt. Sie wurden im Gegenteil eher angeraunt: Sei doch mal still! Oder: Ich will keinen Ton hören! Wenn das Kind stirbt, ist es deine Schuld."
Unterschiede in der Versorgung: vier Ärzte je 10 000 Einwohner
Das Land gilt als eines der ärmsten in Lateinamerika. 2,43 Geburten gab es laut Statistischem Bundesamt 2019 je Frau in Honduras (Deutschland: 1,54). Frauen aus der ärmeren Bevölkerungsschicht bekommen laut Bahr im Schnitt mehr als drei Kinder; 22 Prozent der 15- bis 19-jährigen Frauen waren laut honduranischem Gesundheitsministerium schon schwanger. Auf 100 000 Geburten gerechnet starben im Jahr 2017 laut Weltgesundheitsorganisation WHO 65 Mütter; in Deutschland sind es laut Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung weniger als 4. Nicht zu übersehen auch der Unterschied in der ärztlichen Versorgung: Vier Ärzte gab es in Honduras je 10 000 Einwohner 2005, in Deutschland waren es 2015 insgesamt 42 pro 10 000 Einwohner. "Eine Frau lag bei der Visite durch einen Gynäkologen, begleitet von Medizinstudenten und Pflegepersonal, entblößt in der Mitte des Raumes, in dem mehreren Frauen lagen. Ich habe ihren Schreck gespürt, ihr meine Hand angeboten, mit ihr geatmet, war für sie da, blieb. Ich habe mich berufen gefühlt, für die Frauen dazusein. Familienangehörigen ist der Zugang verboten. Ich bin tags, nachts und am Wochenende zurückgegangen."
Das war der Moment, in dem Bahr wusste: Ihr Platz ist in Honduras. Das Thema würdige Geburt begleitet die gebürtige Balingerin, die derzeit in Hechingen wohnt, bis heute. Inzwischen werde Gewalt in der Geburtshilfe mehr sichtbar gemacht, betont Bahr. Das zeigt auch ein Blick auf die politische Ebene: Die frühere UN-Sonderberichterstatterin Dubravka Šimonovic widmete sich ab 2019 dem Thema, die WHO warnte ab 2014 vor Geringschätzung und Misshandlung der gebärenden Frauen. Der Deutsche Hebammenverband schreibt: "Gewalt in der Geburtshilfe darf nicht sein." Und: Mit dem Roses Revolution Day wird jedes Jahr am 25. November an Gewalt unter der Geburt erinnert. Betroffene Frauen legen an diesem Tag Rosen vor Kreißsälen oder Kliniken ab. "In Honduras redeten die Ärzte oft über die Köpfe der Gebärenden hinweg. Manche Frauen können nicht lesen und schreiben, es gibt oft keine Bildung zum Thema eigener Körper. Ich habe kultursensible Geburtsvorbereitungskurse entwickelt und gehalten, Plakate mit Bildern und kurzen Sätzen an die Wände gehängt, damit die Frauen wissen, was auf sie zukommt. Drei Monate später forderte mich eine Ärztin dazu auf, meine Arbeit zu beenden. Die Frauen in der Klinik hätten die gute Behandlung nicht verdient. Sie seien der Dreck von der Straße, der Staub von den Bergen."
Das machte sie zunächst fassungslos. Mittlerweile kennt sie das Land und dessen kulturelle Gegebenheiten bis ins Detail. "Die Linien zwischen den Klassen sind fein gesteckt. Und doch kam in derselben Woche ein junger Arzt zu mir und sagte: ›Danke, Sie haben mein Leben verändert, durch Sie habe ich verstanden, dass diese Frauen Gefühle haben.‹ Meine Arbeit hatte Auswirkungen auf mein Umfeld. Daraufhin fing ich an, Seminare für Gesundheitspersonal zu entwickeln, um es für eine sensible Geburtsbegleitung zu schulen. Doch das Problem lag nicht nur im Umgangston, auch in der Art, wie Geburtshilfe praktiziert wurde. Die Frauen durften sich nicht bewegen, mussten liegen. Oft waren bei einer Geburt bis zu 25 Menschen anwesend, Dammschnitte waren Routine, Wehentropf bei jeder Frau, die Kristellerrate lag dort bei etwa 60 Prozent."
"Dörfer liegen teils drei Stunden entfernt vom nächsten Hospital"
Kristellern ist auch in Deutschland eine umstrittene Technik, bei der mal leicht mit der Hand auf den Bauch gedrückt wird, bei der es aber auch brachial zugehen kann, wenn Ärzte oder Geburtshelfer mit sehr viel Kraft, mit dem Unterarm, Ellbogen oder Oberkörper das Kind mit herauspressen wollen. Der Deutsche Hebammenverband veröffentlichte eigens ein Plakat "Wenn kristellern, dann richtig", die WHO kritisiert die Technik und lehnt sie ab.
Von La Ceiba an der Nordküste machte sich Bahr auf ins ganze Land, auch in ländliche Regionen, um die Realität in anderen Kreißsälen kennenzulernen. Überall sei es ähnlich gewesen, sagt sie.
"Im Gesundheitssystem von Honduras gibt es keine Hebammen. Es gibt aber einige Frauen ohne Ausbildung, die Gebärenden helfen. Viele waren sehr alt. Die Dörfer liegen teils drei Stunden entfernt vom nächsten Hospital. Ich habe also ein Bildungsprogramm entwickelt, in dem wir Frauen auf dem Land ausbilden, bei einer Geburt helfen und kritische Situationen erkennen zu können."
Um das Problem "an den Wurzeln zu verändern", wie Bahr sagt, zog sie in die Nähe der honduranischen Hauptstadt Tegucigalpa.
"Dort war es möglich, Gesundheitspersonal und Studenten an der medizinischen Fakultät der Universität und im größten Schulhospital des Landes zu schulen. Dort haben wir es geschafft, die Kristellerrate von 40 auf 0 Prozent zu drücken, und erreicht, dass sich Frauen unter der Geburt bewegen dürfen. Und ich konnte eine Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsministerium erreichen. Es war viel Arbeit, oft anstrengend, gefährlich. Ich habe sogar eine Morddrohung erhalten. Kritik laut auszusprechen, ist in Honduras nicht üblich. Als ich einmal einen Bericht an die UN schickte, der ohne Absprache veröffentlicht wurde, hatte ich die Militärpolizei vor der Haustür."Die Kriminalitätsrate in Honduras ist sehr hoch. Das Auswärtige Amt schreibt etwa, in Tegucigalpa und La Ceiba kommt es häufig zu Entführungen und Überfällen mit Schusswaffengebrauch", von hoher Gewaltbereitschaft ist die Rede. Kein Grund für Bahr, sich entmutigen zu lassen. Schon 2009 gründete sie den Verein Geburtshilfe und Geburtsbegleitung Honduras, um Spenden für Projekte vor Ort zu generieren. 2016 folgte in Honduras die Nichtregierungsorganisation "Asociación Dar a Luz Honduras". Auf Deutsch heißt dar a luz wörtlich "ans Licht geben", übersetzt "gebären".
"2010 habe ich ein Programm für freiwillige Mitarbeiter, Doulas, Hebammen, Sozialarbeiterinnen, Krankenschwestern und Ärzte in unseren Projekten ins Leben gerufen. Seither waren über 200 Freiwillige dabei, aus den USA, Kanada, Australien, Deutschland, England, Israel, Pakistan und der Schweiz. Durch die Pandemie wurde das Programm eingestellt, ab Januar nehmen wir wieder Freiwillige auf."
2019 wurde Bahr für den "Human Rights in Childbirth Champion Award", der sich für Menschenrechte in der Geburtshilfe einsetzt, nominiert – und ausgezeichnet, mit vier anderen Frauen weltweit. Es ist eine Anerkennung ihrer Arbeit, die ihr noch mehr Gehör verschafft. Auch Daniel Kempken, einst stellvertretender Botschafter in Honduras, würdigt ihre Arbeit. Bahr habe "mit großem Engagement und Herzblut eine medizinische und auch psychologisch-betreuerische Leistung erbracht, die in dem doch recht schwachen Gesundheitssystem sehr, sehr wichtig war", wie er unsere Redaktion wissen lässt. Mittlerweile ist Bahr als "birth activist", als Geburtsaktivistin, international tätig. Sie gehört dem Observatorium für Gewalt in der Geburtshilfe in Lateinamerika und auch dem Netzwerk für humanitäre Geburtshilfe Lateinamerika und Karibik an. Die Corona-Pandemie veränderte allerdings ihren Alltag.
"Die Geburt hat einen nachhaltigen Einflussauf die Gesellschaft"
"Seit 2007 war ich dort, jetzt bin ich erstmals zurück. Während der Pandemie gab es Schulungen und Trainings online, das Freiwilligen-Programm wurde eingestellt. Viele Ärzte und Krankenschwestern sind gestorben. Das war wirklich schlimm für so ein kleines Land mit fast zehn Millionen Einwohnern. Mit Honduras bleibe ich verbunden. Durch die Zeitverschiebung sitze ich oft noch nachts in Konferenzen."
In Deutschland ist sie außerdem in der Geburtsbegleitung und -vorbereitung tätig. Auch hierzulande gebe es in der Geburtshilfe einiges zu tun.
"Wie der berühmte Arzt und Geburtshelfer Michel Odent in seinen Büchern beschreibt, hat die Geburt einen nachhaltigen Einfluss auf die Gesellschaft. Außerdem wird nicht nur ein Kind geboren, sondern auch eine Mutter, die es zu unterstützen gilt."