Foto: EPA

Der Gazastreifen ist nur 75 Kilometer von Tel Aviv entfernt. Als ob man in Stuttgart säße – und auf der Schwäbischen Alb würden die Menschen sterben.

Tel Aviv - Nur zwei Stunden lang hatte ich mein Smartphone nicht beachtet. Ich sitze in einem Jiidisch-Kurs in Jerusalem, über den ich schreiben will. Die alte Sprache der Juden umgibt mich wie eine Zeitblase, führt mich zurück in die Zeit der Diaspora, in die Schtetl Osteuropas. Die elf Schüler, allesamt Israelis mittleren Alters, die die vergessene Sprache ihrer Eltern lernen wollen, lesen ein Gedicht von Solomon Ettinger, einem polnisch-jüdischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, der in Jidisch schrieb. In dem Text geht es um Kinder, die gegen ihren gewalttätigen Vater aufbegehren, und dadurch nur noch mehr, noch schlimmere Schläge bekommen. Lea, die Lehrerin erklärt den Unterschied zwischen „zerreißen“ und „zerbrechen“, „schmeißen“ und „schlagen“. Und am Ende will sie von ihren Schülern wissen, was die Moral dieses Textes sei. Sollte der Schwächere sein Leid hinnehmen, um nicht noch Schlimmeres zu provozieren? „Ich finde das nicht sehr gut“, sagt eine Frau – und eine andere findet diese Haltung zu fatalistisch. Als ich um kurz nach 18 Uhr den Kurs verlasse, erfahre ich, dass Krieg herrscht am Gazastreifen.

Seit Tagen hatte sich die Gewalt hochgeschaukelt. Radikale palästinensische Gruppen hatten Ziele in Israel beschossen, unter anderem die Städte Sderot und Ashkelot, die israelische Armee hatte mit Luftangriffen geantwortet. Am Dienstag war die Rede von einer vereinbarten Feuerpause, am Mittwoch dann, gegen 16 Uhr, tötet Israel Ahmed Jabari, Militärchef der Hamas, mit einem gezielten Luftangriff auf dessen Auto. Die Regierung kündigt an, dass dies erst der Anfang der Operation „Säule der Verteidigung“ sei und auch eine Bodenoffensive nicht ausgeschlossen werde. Die Hamas spricht von einer Kriegserklärung und kündigt massive Vergeltungsschläge gegen Israel an, Selbstmordattentate nicht ausgeschlossen. .

Krieg – unvorstellbar für jemanden wie mich, der sein ganzes Leben gedankenlos im Frieden verbracht hat. Der Gazastreifen ist nur 75 Kilometer von Tel Aviv entfernt. Als ob man in Stuttgart säße – und auf der Schwäbischen Alb würden die Menschen sterben. Und die Bomben in Gaza durchbrechen auch die routinierte Fassade der Israelis. Jeder redet über die Offensive der Regierung Benjamin Natanjahus und was sie für das ganze Land bedeuten könnte. Wer links wählt, vermutet dahinter ein Wahlkampfmanöver der konservativ-rechten Regierung, die kurz vor den Wahlen am 22. Januar alle Aufmerksamkeit auf die Frage der Sicherheit lenken will, mit der sie am meisten punkten kann. Bislang waren soziale Fragen, Bildung, Lebenshaltungskosten, Arbeit wichtige Themen des Wahlkampfes. Die Zeitung Haaretz listet eine Reihe anderer Militäroperationen auf, die jeweils kurz vor einer Wahl stattfanden: Die Bombardierung eines irakischen Reaktors 1981, Operationen im Libanon 1996 und in Gaza 2009. Wer Bibi Netanjahu näher steht, sieht darin ein legitimes Mittel der Verteidigung gegen die Aggression aus Gaza.

„Kannst es glauben, dass wir hier sitzen und Hochzeit feiern, während nicht weit entfernt ein Krieg tobt“, fragt mich Michal am Abend, „das ist Israel“. Ich sitze mit ihr und etwa 400 anderen Menschen in einem der Hochzeitsgärten, die es um Tel Aviv herum gibt. Künstlich angelegte, grüne und bunt blühende Märchenlandschaften inmitten eines ausgetrockneten Landes. Anat und Asaf heiraten heute und ich darf netterweise dabei sein, als bei der Zeremonie unterm Baldachin durch den Rabbi das Glas zerbrochen wird – ein Symbol für die Zerstörung des Tempels in Jerusalem. Es gäbe viel zu erzählen über dieses Fest, den Gesang des Rabbis, das viele Essen, das lustige Video, das die Freunde gedreht haben, die vielen Gäste, die nichts ungewöhnliches für eine jüdische Hochzeit sind. Und über hunderte weißen Luftballons, die nach der Zeremonie in einen düsteren Nachthimmel steigen. Aber das alles muss jetzt warten – ebenso wie die Erlebnisse im Jiddisch-Kurs.

Am nächsten Morgen fahre ich früh zurück nach Tel Aviv. Die Hamas hat Raketen, die bis nach Tel Aviv fliegen können. Ehud Barak, der Verteidigungsminister betont, dass ein Großteil bei den jetzigen Bombardements zerstört worden sei. Aber nicht alle. Ich will mit Tel Avivern sprechen und ich habe Kontakt zu einem Ehepaar, dass in einem Kibbuz, nur vier Kilometer vom Gazastreifen entfernt lebt und seit zwei Tagen im Bunker sitzt. Und ich will eine Studentin treffen, die vor dem Beschuss aus der Universitäts-Stadt Be'er Scheva geflogen ist. Außerdem will ich ein bisschen über Solomon Ettingers Moral nachdenken und darüber, ob es in diesem Konflikt am Ende vielleicht nur noch Schwache geben wird. Während ich eine Stunde im Bus sitze, sterben auf beiden Seiten mindestens sechs Menschen. Fortsetzung folgt...

StN-Redakteurin Lisa Welzhofer lebt und arbeitet zwei Monate lang in Tel Aviv und berichtet für unsere Zeitung von dort. Sie ist Stipendiatin des „Ernst-Cramer & Teddy Kollek-Fellowship“, das deutschen Journalisten einen Aufenthalt im Nahen Osten ermöglicht.