Am Mittwoch kommt es in Calw zu einem stundenlangen Großeinsatz. Aus einem Flüssiggastank tritt Gas aus. Feuerwehr, Polizei und Rettungsdienst sind mit einem riesigen Aufgebot vor Ort. 240 Menschen werden aus Sicherheitsgründen evakuiert – und auf den Straßen herrscht Chaos.
In Calw herrscht am Mittwochvormittag Ausnahmezustand. Seit kurz nach 11 Uhr reißt der Lärm der Martinshörner nicht mehr ab, Feuerwehrauto nach Feuerwehrauto, dazu Polizeifahrzeuge und der Rettungsdienst rasen durch die Stadt – so schnell dies eben geht, angesichts des Verkehrs, der sich bereits in der Bischof- und Stuttgarter Straße staut.
Das Ziel der Einsatzfahrzeuge ist die Bahnhofstraße. Dort, wo die B 463 in Richtung Nagold abzweigt, stehen Polizeiautos quer auf der Fahrbahn, und Polizisten sind hektisch dabei, Absperrbänder zwischen den Ampeln zu spannen. Fußgänger und eine Gruppe Fahrradfahrer, die unterwegs sind, werden weggeschickt, wer sich einer der Absperrungen nähert, wird lautstark aufgefordert, das zu unterlassen. Aus der Ferne sieht man eine Gasfackel brennen, in etwa auf Höhe des Hauses Nummer 20.
Gas tritt aus Tank aus
Um 11.09 Uhr wird die Feuerwehr wegen Gasaustritts in der Bahnhofstraße alarmiert, berichtet später Stadtbrandmeister und Einsatzleiter Marcus Frank. Die Rettungskräfte rücken zunächst in Löschzugstärke an. Und tatsächlich: Es tritt Gas aus – und zwar aus einem alten, unterirdischen Flüssiggastank.
Alarmiert hatte die Feuerwehr ein Mitarbeiter einer Fachfirma, der den Tank stilllegen sollte. Dabei bemerkte er nicht nur, in welch’ schlechtem Zustand sich dieser befindet, sondern auch, dass es nach Gas riecht, wie Frank rekapituliert.
Die Folgen waren gravierend: In einem Radius von 150 Metern rund um den Tank würde ein Gefahrenbereich eingerichtet. „Dieser wurde dann koordiniert geräumt“, erklärt Benjamin Koch, der Leiter der Pressestelle des Polizeipräsidiums Pforzheim. Koch ist ebenfalls nach Calw geeilt. 240 Personen werden evakuiert, darunter 150 Schüler der Erna-Brehm-Schule. Diese kommen im Hermann-Hesse-Gymnasium unter.
Lisa B. ist eine der Evakuierten Anwohner. Sie sitzt mit ihrer Katze in der Transportbox vorm Eingang einer Pizzeria. „Ich war zu Hause und hab’ einen Kaffee getrunken“, erzählt sie. Dann plötzlich habe sie gehört, wie laut an der Tür ihres Nachbarn geklopft wurde. Auch vor ihrer Tür stand kurz darauf eine Feuerwehrfrau. „Ich soll so schnell wie möglich die Wohnung verlassen.“ Wegen möglichen Gasaustritts bestehe Explosionsgefahr. „Ich hab gedacht: Was geht denn jetzt ab? Wo bin ich denn hier gelandet, in welchem Film?“, erinnert sich Lisa B.
Sammelstelle für Evakuierte
Die junge Frau versucht, ihre zwei Katzen zu packen und mitzunehmen. Nur bei einer gelingt es ihr, die andere entwischt. Sie muss sie in der Wohnung zurücklassen. „Das finde ich das Schlimmste, dass die alleine in der Wohnung ist.“ Lisa B. macht sich Sorgen.
Gegen 13.45 Uhr ist der Einsatz noch immer voll am Laufen. Erst jetzt haben Feuerwehr und Polizei Zeit, ausführlich über das Geschehen zu informieren. Kurz zuvor haben die Rettungskräfte eine Sammelstelle für alle Evakuierten in der Stuttgarter Straße eingerichtet. Wer will, kann sich dort hinbegeben. Oder es so machen wie Nicole Rackow. Ihr Haus stehe direkt neben dem alten Gastank, sie wohne in der Bahnhofstraße 20. Rackow hat sich Geldbeutel und Handy geschnappt und noch schnell ihr Auto weggefahren. So könne sie später zumindest ihre Tochter vom Kindergarten abholen und, falls nötig, „stundenlang Eis essen gehen“ – bis die Gefahr gebannt ist. Nicole Rackow nimmt’s mit Humor.
Unterdessen ist noch unklar, wie lange bereits Flüssiggas aus dem Tank austrat. Unter Umstände sei eine Sättigung des Erdreichs möglich, erklärt Marcus Frank. „Unter Umständen auch im Kanalnetz.“ Am frühen Nachmittag hat der Einsatzleiter zumindest in dieser Hinsicht gute Nachrichten: Messungen, etwa in Kellern und Kanälen rund um den Tank, sind „negativ verlaufen“. Die Feuerwehr geht davon aus, dass es im Bereich der Füllöffnung des Tanks zum Leck kam. Die Ermittlungen hinsichtlich der genauen Ursache dafür dauern an.
Über die Gasfackel, die bereits der Mitarbeiter der Fachfirma installiert hatte, wurde der Tank entleert. Die Hauptgasmenge sei gebunden, der Tank stattdessen mit Wasser gefüllt. Allerdings ist nun laut Frank unklar, ob es etwa noch Gasblasen im Innern gibt, oder ob das Wasser kontaminiert ist. Die Feuerwehr hat deshalb einen speziellen Kesselwagen angefordert, den das Land Baden-Württemberg bei der Berufsfeuerwehr in Pforzheim stationiert hat. Dieses mobile Gefahrstoff-Fahrzeug soll am Nachmittag das möglicherweise verunreinigte Wasser aus dem Gastank absaugen.
Kleiner Kranwagen
Gegen 13.30 Uhr dürfen die ersten Bewohner – die, die nicht direkt in der Bahnhofstraße sondern in den weiter entfernten Bereichen daheim sind – in ihre Wohnungen zurückkehren. Wann dies für alle der Fall sein wird, können Benjamin Koch, Marcus Frank und Markus Fritsch, Vorsitzender des Kreisfeuerwehrverbands Calw und zugleich Pressesprecher, da noch nicht sagen. Zumindest eine weitere gute Nachricht hat Letzterer: „Bis zum jetzigen Zeitpunkt gibt es keine Verletzten. Den Evakuierten geht es gut.“
Um etwa 15 Uhr können schließlich auch die Betroffenen aus der Bahnhofstraße wieder nach Hause. Die Feuerwehr ist, wenn auch mit weniger Kräften, gegen 16.40 Uhr aber noch immer vor Ort: Inzwischen hat sie mit einem kleinen Kranwagen den Deckel des Flüssiggastanks geöffnet und das Spezialfahrzeug aus Pforzheim hat den Inhalt abgepumpt. Die dortige Berufsfeuerwehr wird die fünf Kubikmeter Flüssigkeit auch entsorgen.
Dann trifft ein Betonmischer ein: Der nun leere Tank im Boden wird mit Beton aufgefüllt. „Damit überhaupt nichts mehr passieren kann“, sagt Markus Fritsch. Sicher ist sicher.
Wer den Feuerwehrleuten zuhört, der kann erahnen, dass dieser 20. September auch ganz anders hätte ausgehen können. Sie können sich nicht daran erinnern, in Calw den vergangenen 30 Jahren solch einen Großeinsatz mit Evakuierung erlebt zu haben. Die Hesse-Stadt ist am Mittwoch glimpflich davongekommen.