Helgi Kolvidsson in dem Stadion, in dem er einst für den SC Pfullendorf spielte. Foto: Andreas Reiner

Fußball: Co-Trainer Helgi Kolvidsson und Wikingerelf wollen zum ersten Mal bei Fußball-Weltmeisterschaft punkten.

Am 16. Juni hat Helgi Kolvidsson mit seiner Mannschaft das erste WM-Spiel. Er ist Co-Trainer der Isländer. Dabei lebt er gar nicht auf der Insel, sondern im Südbadischen.

Das nach einem Schweizer Sanitärhersteller benannten Stadion, die Geberit-Arena in Pfullendorf, ist der perfekte Ort für ein Treffen mit Helgi Kolvidsson. Hier hat vor 23 Jahren beim damaligen Regionalligisten seine Karriere angefangen, deren vorläufiges Highlight die Teilnahme an der Fußball-WM in Russland darstellt. Kolvidsson ist mittlerweile Co-Trainer der Nationalmannschaft Islands.

Das Stadion ist an diesem Morgen verwaist. Helgi Kolvidsson hat sich eine Thermojacke mit Fellbesatz angezogen und auf einem der ausgeblichenen, kalten Plastiksitze Platz genommen. "Den Schlüssel zur Umkleidekabine musste ich leider abgeben", scherzt er. Er schiebt eine frische Portion Snus unter die Oberlippe, den in Skandinavien und angeblich auch bei Profifußballern beliebten Kautabak. Der 46-Jährige ist Pfullendorfs letztes Fenster zur großen Fußballwelt, er hat unter anderem neben Jürgen Klopp in Mainz verteidigt.

Doch interessanter als der Fußballer ist der Mensch. Man kann dem Mann stundenlang zuhören und kommt doch nicht dahinter, wo sein Dialekt zu verorten ist. Kolvidsson hat dieses leichte skandinavische Zischen in der Stimme und eine klare Aussprache. Er mischt das mit einem Vorarlberger Akzent, der aus seiner Zeit bei Austria Lustenau kommen muss. Dazu ein paar schwäbische Vokabeln und immer wieder ein verschmitztes Grinsen.

Im Südbadischen fing für den damals 24-Jährigen alles an

Man müsse immer als Erstes die Sprache der Menschen um einen herum lernen, sagt Kolvidsson. 24 Jahre war er alt, als er "mit der ›Bild‹-Zeitung und viel Ehrgeiz" in Pfullendorf Deutsch gepaukt hat. Nach Südbaden vermittelte ihn der Ex-Bundesliga-Spieler Atli Edvaldsson. Der war damals Trainer beim isländischen HK Kopavogur und warb Kolvidsson vom Stadtrivalen ab – mit dem Versprechen, seine Kontakte nach Deutschland spielen zu lassen. Im Portugal-Urlaub erfuhr Kolvidsson schließlich von seinem neuen Job. Der SC Pfullendorf war schon damals keine große Nummer, "aber mir hat fürs Erste gereicht, dass ich überhaupt ganzjährig Fußball spielen konnte", sagt der Verteidiger.

Mitte der 90er war ein Hype um die isländischen Kicker noch unvorstellbar. Außerdem gab es auf der Insel auch noch keine Fußballhallen mit Rasenbelag. Man habe im Winter eben Handball gespielt, und im Dreisprung sei er auch gut gewesen, sagt Kolvidsson.

Es waren andere Zeiten. Fußballerkarrieren enden heute eher mit 24, als dass sie anfangen. Im Profifußball ist es normal, dass jedes Jahr neue ausländische Legionäre auflaufen – damals war ein Isländer bei einem Drittligisten in der Provinz doch eher exotisch. Was also tun, um mit den verschlossenen Südbadnern warm zu werden? "Ich bin eben unter die Leute gegangen", sagt Kolvidsson. In seinem ersten Jahr hat er nebenher bei einer Baufirma gearbeitet. Training war ja nur dreimal die Woche – für die anderen. Kolvidsson schob Sondereinheiten. "Und trotzdem war es für mich ein Luxus, aufzustehen und zum Fußballtraining zu gehen", erinnert sich Kolvidsson.

Was bei der Integration half: dass er sich hier verliebt hat. Seine Frau kommt aus dem nahen Bad Saulgau. Bei einer 1-Mark-Party hat es gefunkt. "Das funktioniert nur, weil sie genauso verrückt ist wie ich", glaubt er. Im Klartext: Frau Kolvidsson musste mit ihrem Mann ziemlich oft umziehen. Nach Lustenau pendelte er noch, später ging es nach Mainz, Klagenfurt, Ulm und irgendwann zurück nach Pfullendorf.

36 Jahre alt war Kolvidsson, als ihm ein Knochen in der Fußwurzel brach. "Die Versicherungen haben mir gekündigt, mein Vertrag lief aus, wir hatten ein Haus gebaut, und meine Frau war mit dem dritten Kind schwanger. Da musst du überlegen: Was machst du jetzt?" Die existenzielle Not löste der damalige Vereinspräsident von Pfullendorf mit einem Anruf: "Machst du Trainer?"

Die Nationalmannschaft ruft: 2016 kommt der nächste Karriereschritt

Michael Feichtenbeiner, einst bei den Stuttgarter Kickers, heute Trainer der deutschen U-15, war mangels Erfolg rausgeflogen. Kolvidsson sprang ein, leitete das Training auf Krücken, gewann viele Spiele und den Südbaden-Pokal. "Das waren ganz kleine Veränderungen in der Ansprache. Faszinierend, was das bewirken kann", sagt er über seine ersten Erfahrungen als Trainer. Mit dem ehemaligen VfB-Coach Hannes Wolf teilte er sich beim Lizenz-Lehrgang das Zimmer, trainierte in Lustenau, Wiener Neustadt und Ried. Dann kam der nächste Anruf, der nächste Karriereschritt.

An Ostern 2016 schickte der isländische Fußballverband Kolvidsson nach Budapest zum Scouten des nächsten Gegners. Drei Wochen später folgte die Einladung zur EM in Frankreich, wo die Isländer es ins Viertelfinale schafften und mit ihren Fans und den "Huh"-Schreien die Welt verzückten. "Wir in Island lieben eben flache Hierarchien", sagt Kolvidsson zu seiner Blitzbeförderung.

Und die Welt liebt Island. Die EM und die erste WM-Qualifikation befeuerten eine Begeisterung, über die am lautesten die Isländer selbst schimpfen. Nicht weil das Team jetzt weltweit zu Freundschaftsspielen eingeladen wird, was viel Geld in die Verbandskasse spült. Sondern weil die Insel die vielen Touristen gar nicht mehr verkraftet. Helgi Kolvidsson kriegt das selbst zu spüren, wenn er in seinem Ferienhaus in der Heimat ist. "Durch den Tourismus ist alles extrem teuer geworden, auch für Isländer", sagt er.

Die Landschaft in seiner Wahlheimat gefällt ihm, und der Wurstsalat

Doch der Anblick der Wale, die an seinem Ferienhaus in den Westfjorden vorbeischwimmen, ist immer noch gratis. Wandern, grillen, Jeep fahren auch. Dank seines Trainerjobs kommt Kolvidsson jetzt noch etwas öfter in die Heimat. "Unglaublich gern" sei er dort, aber die Landschaft um Pfullendorf habe ihm auch schon immer gefallen, der Wurstsalat auch. Mittlerweile wohnt er mit seiner Familie im Pfullendorfer Nachbarort Ostrach.

Es ist sein großes Glück, dass er das alles verbinden kann. Anders als Cheftrainer Heimir Hallgrimsson, im Hauptberuf bekanntester Zahnarzt Islands, arbeitet Kolvidsson bis heute im Profifußball: Er vertreibt Eisbäder. Da steigen die Sportler nach dem Training hinein, das acht bis zwölf Grad kalte Wasser fördert die Durchblutung. Drei Minuten reichten schon, Standard sei das heute im Profisport, sagt Kolvidsson. Umso ehrlicher kann er sich über wahrhaft schwäbische Bundesligisten aufregen, die ihr Personal gern in seine Eisbäder stecken, dafür aber nicht zahlen wollen.

Kolvidsson kann Laien nicht nur erklären, warum heute jeder Spitzensportler seine Eisbäder braucht. Kolvidsson erzählt auch, wie er einst in einem Länderspiel gegen den tschechischen Spielmacher Pavel Nedved unterging, obwohl er doch körperlich top in Form war. "Es lag nicht daran, dass ich zu wenig traininert hätte. Die Tschechen haben damals schon jeden Spieler individuell gecoacht. Heute ist das Standard." Auch bei der isländischen Elf. Das Team werde bei der Weltmeisterschaft "noch mal eine Schippe drauflegen".

Sollte es Island dennoch nicht ins Halbfinale schaffen, wäre Kolvidsson pünktlich zu den Pfullendorfer Biker Days wieder zurück. Seit bald zehn Jahren organisieren er und ein paar Freunde das Motorradtreffen. Ja, man kann sagen, dass da ein Isländer heimisch geworden ist in Südbaden. Wenn er heute durch Pfullendorf spaziert, muss er vielen die Hand schütteln – als Ex-Kollege, bekannter Fußballer, Bikerkumpel oder einfach nur als weit gereister Skandinavier, der mittlerweile einer von ihnen geworden ist.