Archivarbeit statt Auslandsreise. Was erst einmal nach zweiter Wahl klingt, entpuppte sich für Joelina Gärtner während des vergangenes Jahres als Glücksgriff. Nun endet ihr Freiwilliges Soziales Jahr in Rottweil, indem sie trotz, aber vielleicht auch wegen Corona über sich hinausgewachsen ist.
Rottweil - Eigentlich wollte Joelina Gärtner nach dem Abitur das machen, was viele machen wollen. Hinaus in die Welt, was erleben. "Ich wollte ins Ausland, doch das ging nicht, wegen Corona", erzählt die 19-Jährige, die aus dem hessischen Assenheim kommt. Ein Plan B musste her, irgendwas mit Kultur, am besten Theater. "Aber der Theaterbereich war ja dicht".
Weil Joelina geschichtsbegeistert ist, sah sie sich nach einem FSJ in diesem Bereich um. Mehrere Städte kamen in Betracht, darunter Rottweil. "Das Stadtarchiv der ältesten Stadt Baden-Württembergs, das fand ich spannend", erklärt sie. Den Ausschlag gegeben habe dann nicht etwa der Testturm oder gar die geplante Hängebrücke, sondern die historische Innenstadt. "Die hat mir gefallen und mich beeindruckt."
Gefallen hätte der 19-Jährigen sicherlich auch die Fasnet, das Jazzfest, das Stadtfest und so vieles mehr – schließlich kam Joelina in bester Lage, in einer Ferienwohnung am schwarzen Tor, unter. Aber die Pandemie wollte es anders. Das öffentliche Leben kam zum Stillstand, und mit ihm auch das, was in Rottweil ein weiteres Pfund ist: der kulturelle Kosmos.
19-Jährige wächst an Herausforderung
Für eine jungen Menschen, fernab der Heimat, kann das belastend sein. "Es gab Phasen, wo man dachte, dass gar nichts mehr geht. Vor allem im März und April, als die Inzidenz in Kreis immer noch so hoch war." Doch Joelina beißt sich durch. "Die Zeit war eine Herausforderung für mich, aber eine, an der ich wachsen konnte und gewachsen bin."
Und: Während das Archiv und die Museen geschlossen bleiben mussten, riss die Arbeit nicht ab. Anfragen kamen nun per E-Mail oder übers Telefon, Archivalien mussten rausgesucht, kopiert und zugeschickt werden. "Joelina spricht Französisch, Italienisch und Englisch – das war eine große Bereicherung, vor allem bei Anfragen aus den Partnerstädten", erzählt Stadtarchivar Mathias Kunz.
Und dann gab es noch ein besonderes Projekt: Die Überreste des Horst-Wessel-Lieds an einer der Säulen des Festsaals der Gymnasien sind Zeugen eines dunklen Kapitels Rottweiler Geschichte. Das Lied, instrumentalisiert von den Nazis, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg bis auf wenige Zeilen aus den steinernen Säulen herausgemeißelt. Was dort noch steht, blieb lange Zeit, obwohl direkt vor der Nase, nicht nur außerhalb der Wahrnehmung, sondern auch unkommentiert.
Manchmal braucht es eben den ungetrübten Blick von außen, um etwas ins Rollen zu bringen. Joelina recherchierte in Originalquellen, sprach mit Zeitzeugen und erstellte letztlich eine Erklärtafel samt QR-Code, die die Zeilen einordnen und auch im Gemeinderat Beachtung fanden. "Das war mir ein Anliegen", betont Joelina.
Nächster FSJler startet bald
Nun sind es nur noch ein paar Wochen, dann endet das FSJ für die junge Hessin. Hineinschnuppern beim Kinder- und Jugendreferat steht noch auf dem Programm – und die Übergabe an ihren Nachfolger, der hat es als waschechter Rottweiler gar nicht weit bis in die Engelgasse.
Philipp Englerth, der sein Abi am EHG gemacht hat, startet im September. Und er freut sich drauf: "Ich bin geschichtsinteressiert, vor allem die Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts hat es mir angetan", erzählt der 19-Jährige.
Zu tun gibt es für ihn einiges. "Die Mitarbeit beim Gedenken an die Reichspogromnacht, die Vorbereitungen zum Tag des offenen Denkmals und im Oktober feiert Rottweil 1250 Jahre Stadtgeschichte", zählt Kunz auf. Wie Joelina wird aber auch Philipp eigene Projekte umsetzen können. Geschichte und Geschichten gibt es in Rottweil ja zuhauf.